Rezension
Enrico Morovich
Alltägliche Wunder
Erzählungen
Hrsg. und ins Deutsche übertragen von Hans Raimund
Löcker Verlag 2024, 126 Seiten
ISBN: 978-3-99098-192-4
Enrico Morovich: ein Autor, den man hierzulande auch dreißig Jahre nach seinem Tod noch nicht kennt, der in seiner Heimat Italien aber zeitlebens eine fixe Größe auf der Terza pagina der Tageszeitungen war, jener Seite also, die der Literatur abseits aller Aktualität gewidmet ist: der kleinen Prosa, dem Feuilleton, dem Gedicht.
Wie Ödön von Horvath stammt Morovich aus der vielsprachigen Welt Istriens; wie Horvath kam er in Sussak zur Welt, einem Vorort von Fiume, das heute Rijeka heißt, damals, 1906, aber zu Österreich-Ungarn gehörte, genauer gesagt: zum Königreich Ungarn; der literarische Weg, den Morovich einschlug, war allerdings ein völlig anderer: Er führte ihn schon in jungen Jahren zur phantastischen Prosa, zu einer Form der Erzählung jenseits aller Psychologie und zu einem Bild von der Welt, in dem Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits keine getrennten Sphären sind, sondern nahtlos ineinander übergehen. Die Figuren, die Morovich auftreten lässt, haben immer vertraute Namen, heißen Antonio und Timoteo, Gianna und Carolina, tun aber viele befremdliche Dinge, und dies mit der größten Selbstverständlichkeit, als wäre es gar nicht der Rede wert. Sie treten stets unvermittelt in Erscheinung, um ebenso unvermittelt wieder in der Anonymität zu verschwinden. Was sie denken und fühlen, bleibt weitgehend ausgespart, ihr Innenleben wird genauso wenig durchleuchtet wie das Innenleben von Sagen- und Märchenfiguren; sie sind keine Charaktere im engeren Sinne des Wortes, sondern einfach nur Figuren, mehr umrissen als gezeichnet, Bewohner dieses oder jenes Dorfes, dieser oder jeder Stadt irgendwo im Süden, nahe dem Meer – wo genau, tut nichts zur Sache –, Angehörige dieses oder jenes Standes oder Berufs, Bauern und Bettler, Zirkusartisten und Kleinbürger, Landarbeiter und Jagdwächter, Banditen und Honoratioren. Ob arm oder reich, hellhörig oder mit Blindheit geschlagen, arglos oder berechnend, unschuldig oder mit Schuld beladen, allesamt sind sie hineingeboren in eine Welt voller Wunder.
„Alltägliche Wunder“ (im italienischen Original: „Miracoli quotidiani“) heißt denn auch die Sammlung von Kurz- und Kürzestgeschichten, die ihren Autor bei seinen Landsleuten bekannt gemacht haben. Der österreichische Lyriker und Essayist Hans Raimund, der sich schon seit seinem Aufenthalt in Duino in den 1980er-Jahren mit dem Werk von Morovich befasst und mit ihm auch persönlich in Verbindung stand, hat nun eine repräsentative Auswahl dieser kleinen, pointierten Kabinettstücke erzählender Prosa zusammengestellt und übersetzt.
Zwei Motive vor allem sind es, die sich durch die Sammlung ziehen, in immer neuen Variationen: Engel und Tod. Beide treten sie nicht als überirdische Mächte in Erscheinung, sondern mischen sich unter die Menschen, manchmal als gute Helfer, manchmal aber auch als hilflose Zaungäste des Geschehens. Der Tod wird einmal ertappt wie ein Einbrecher und angehalten, doch etwas leiser zu sein; ein andermal trifft er auf eine Gruppe von Mähern und verliert beim Anblick ihres Tagwerks jede Lust, selbst Ernte zu halten. Ein am Flügel verletzter Engel stürzt in den Garten eines Bauern, findet Aufnahme und Pflege – und weckt die unselige Neugier und den Neid der Nachbarn. Ein anderer Engel springt kurzerhand für eine verstorbene Artistin ein und vollendet ihre Figur – den Balanceakt auf dem Ball –, ehe er in der Kuppel des Zirkuszelts verschwindet.
Das alles wird knapp und schnörkellos erzählt, auf drei, vier Seiten. Selten, dass eine Geschichte länger ist, oft findet Morovich mit geringerem Umfang sein Auslangen. Er spekuliert nicht, er kommentiert nicht, er hält einfach fest, was sich in dieser Welt der alltäglichen Wunder ereignet. Die „stilistische Klarheit, Einfachheit, Direktheit und die daraus oft sich ergebende jähe Poesie“ ist es auch, die Hans Raimund, wie er in seinem Nachwort zu dieser handlichen und schön gestalteten Ausgabe bemerkt, von Anfang an als überaus erfrischend an Morovich empfunden hat – und als „unbedingt einer Übersetzung und Vorstellung wert“. Man muss Hans Raimund dankbar sein, dass er den „Miracoli quotidiani“ eine deutsche Fassung gegeben und uns nun mit einem großen Meister der kleinen Form bekanntgemacht hat.
Christian Teissl (2024)