Rezension
Elisabeth M. Jursa
An der Mauer unter dem Vordach
der wolf verlag 2022, 112 Seiten
ISBN 978-3-903354-19-7
Ihr Lebensweg hat Elisabeth M. Jursa in viele verschiedene Länder geführt. „Ich bin schon viel auf der Welt herumgekommen. Habe in anderen Kulturen gelebt, mit Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, auf verschiedenen Kontinenten. Aber im Paradies war ich noch nie“, notiert sie lakonisch in ihrem jüngsten Buch, einer Sammlung von 37 Kurzprosatexten. Formal loten diese Texte nahezu alle Möglichkeiten und Spielarten der kurzen Prosa aus, vom skizzenhaften Feuilleton über den kleinen Essay bis zum Prosagedicht; manche Texte lassen Ansätze einer Geschichte erkennen, den Anfang oder das Ende einer Erzählung, die unerzählt bleibt; Figuren erscheinen und erheben ihre Stimme, Umrisse von Lebensläufen, von Schicksalen werden erkennbar; anderes wiederum bleibt im Bereich der reinen Reflexion, wie etwa die Skizze über „Tiefe Gräben“ in uns und um uns oder die Betrachtung über das Wort Brot. Hier kommt die Autorin nicht umhin, das große Ganze in den Blick zu nehmen, Befunde über den Zustand der Welt abzugeben und allgemein verbindliche Aussagen zu treffen, was ihr dank ihrer verknappten, unprätentiösen Sprache auch durchaus gelingt. Am eindrucksvollsten und überzeugendsten ist ihre Prosa aber dort, wo sie nicht ins Allgemeine zielt, sondern ganz beim Einzelnen bleibt, bei den einzelnen Mosaiksteinchen des Lebens, in der konkreten Begegnung mit einem Gesicht, einer Stimme, einer zärtlichen Geste, einer Melodie, in der vieles mitschwingt, einem Farbton, der viele Assoziationen weckt.
Elisabeth Jursa sei eine Autorin des „Dazwischen“, schreibt Petra Ganglbauer in ihrem schönen Vorwort zum vorliegenden Band. „Es ist das ‚Dazwischen‘, aus dem sich diese Kurzprosa speist, auch wenn sie ganz konkret von Einsamkeit oder Enttäuschung, Leistungsdruck oder Versäumnissen, Verlassenheit, Armut, sozialer (globaler) Ungerechtigkeit oder mystischer Schau erzählt. Es ist das Oszillierende, das Flüchtige, welches die besondere Qualität dieser Literatur ausmacht.“ Daneben ist noch eine weitere Qualität zu erwähnen: die Fähigkeit der Autorin, ihre Texte mit einem starken Schlussakkord zu versehen. Ein Prosastück dieser Sammlung etwa, wohl das rätselhafteste von allen, endet mit dem Satz „Er stellt zufrieden fest, dass sein Körper keinen Schatten wirft“, und ein anderes, das von den Selbstzweifeln eines Schauspielers handelt, schließt mit den Worten: „Wenn der letzte Vorhang fällt, denkt er, möchte er gerne geschminkt sein.“ Meisterhafte Schlüsse, die man nicht vergisst …
Der Band ist mit zehn Schwarzweißfotographien der Autorin versehen, Momentaufnahmen aus vielen Straßen und von vielen Wegen, kurze Blicke en passant auf Stadtlandschaften, in denen viel gelebtes Leben seine Spuren hinterlassen hat, keine Idyllen, aber doch Szenerien, die eine gewisse Ruhe vermitteln. Ein Motiv vor allem ist es, das in den Fotografien der Autorin häufig wiederkehrt:
das Motiv des Fensters, und das ist kein Zufall, denn wie Fenster sind auch ihre Texte, sie eröffnen Ausblicke, zeigen Weltausschnitte, größere und kleinere, lassen manches aus der Nähe erkennen, manches in der Ferne erahnen. Es ist schön, vor ihnen zu stehen und bei ihnen zu verweilen.
Christian Teissl (2024)