Rezension
Cornelia Travnicek
assu. aus reisen
Limbus Verlag 2023, 96 Seiten
ISBN 978-3-99039-235-5
Cornelia Travniceks Gedichtband assu. aus reisen ist ein poetisches Fernsichtgerät, das ganz nahe heranzoomt. Dieser Band verdient eine große, zeitunabhängige Empfehlung – für alle, die gedanklich auf Reisen gehen oder sich über das Reisen Gedanken machen wollen. So oder so: assu. aus reisen ist eine ‚Verweitsichtigung‘ – eine poetische Horizonterweiterung in alle Richtungen.
Dieser Lyrikband schafft, was gute Reiseerlebnisse auszeichnet: Er öffnet Räume, zeigt Brüche, schenkt Perspektive. Doch Travnicek beschreibt keine schöngefärbten Idyllen; sie holt die Orte aus dem „Museum der Tourist:innen“ zurück.
Wer reist, sieht sich selbst in neuem Licht. Travnicek durchleuchtet sich – und uns – ohne bloße Nabelschau. assu. aus reisen ist ein poetischer Reiseführer, aber einer mit Zwischentönen, Selbstironie und Selbstkritik. Gerade die „augenzwinkernden Zeigefinger“ nehmen mich sehr für diesen Band ein, etwa dieser hier:
Einer Statistik zufolge
Kommen zwei von vier Postkarten aus Yangon
Niemals an
Diese Statistik habe ich
Selbst erhoben
Mir kann ich vertrauen
(S. 43)
In assu. aus reisen spricht ein lyrisches Ich, das weiß, dass dem Reisen auch eine koloniale, konsumierende, privilegierte Geste innewohnen kann:
Wir warten erster Klasse
Auf ein authentisches Erlebnis
Der Tee schmeckt in allen Wagen
Gleich
(Nach Agra, S. 34)
Cornelia Travnicek spart das nicht aus – sie benennt und befragt. Ihre Poesie fordert zurecht Verantwortung ein. In ihrem poetischen Gepäck finden sich auch Krieg, Vergänglichkeit, Abgründe: „Der Preis ist / was du bereit bist zu zahlen“ (S. 51)
Diese Zeilen klingen wie eine Kaufwarnung für alle, die glauben, Reisen sei nur Erholung. Viele Gedichte wirken auch wie lyrische Ansichtskarten, nur dass sie statt eines idyllischen Panoramas oft Bruchlinien zeigen. Travnicek skizziert Eindrücke, mal deutlich, mal nur angedeutet – wie mit dünnem Bleistift auf Papier. Das Sprachbewusstsein der Autorin, die auch Sinologin und Informatikerin ist, hinterlässt bleibenden Eindruck. Auch das Spiel mit Sprichwörtern und Neologismen – wie grüngewartet (S. 53) oder Fernblau (S. 65) – bleibt im Kopf. Schon allein für diese beiden Worte möchte ich die Autorin umarmen, beide Neologismen machen die poetische Originalität des Bandes spürbar. Travniceks Lyrik ist polyglott. Nicht nur im Vokabular, sondern im Denken: Verschiedene kulturelle Codes, Sprachen, Bildwelten begegnen sich hier. assu. aus reisen schenkt uns Weitsicht – nicht nur geografisch.
Der weiteste Sprung des Tigers
Ist über den eigenen Schatten
(S. 53)
Auch formal bleibt der Band eigenständig: Travnicek schreibt interpunktionslos, jeder Vers beginnt mit einem Großbuchstaben. Die Gedichte folgen freien Rhythmen, wirken durchlässig, offen, durchkomponiert. Viele tragen im Titel topografische Koordinaten – Tokyo: „35° 41’ Nord, 139° 46’ Ost“, Isfahan: „32° 39’ Nord, 51° 41’ Ost“. Sie sind mehr als Verortungen – sie sind auch ein poetisches Greifbarmachen der Orte, eine Kartografie der Wahrnehmung. Dazu kommen Abbildungen echter Einreisestempel und Visadokumente. Ein schöner gestalterischer Kniff, der das Thema Reisen nicht nur textlich, sondern auch visuell verankert.
Wer assu. aus reisen liest, merkt schnell: Es geht hier nicht ums Ankommen, sondern ums Weitergehen – im besten Sinn. Ein Lyrikband wie ein ideales Visum: gewährt Einlass, fordert Haltung – aber läuft nicht ab.
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