Rezension
Sidonia Gall
Aus den Kulissen
Roman
edition lex liszt 12, Oberwart 2022, 220 Seiten
ISBN 978-3-99016-199-9
Sidonia Gall, als Sidonia Binder im Burgenland geboren, hat bisher vor allem sehr bedeutsame Gedichtsammlungen und kürzere Erzählungen ("Konzentrische Kreise" [1972], "Bis auf Widerruf" [1980], "Dämonenjagd" [1992], "Ausgewählte Gedichte" [2016] und "Am Brunnenrand" [2016] vorgelegt. Doch scheint sich bei manchen Autoren auf deren innerer Laufbahn auch die Phase für einen umfassenden Roman zu ergeben …
In der sehr dichten Exposition zeigt sich ein Bestand an Figuren; diese sind dann wie auf einem Spielbrett angeordnet (S. 95 u. ö.). Spiel, Figuren und Spielbrett werden wiederholt aufgenommen und mit Bühne, Kulissen, Stadt-Ansichten u. dgl. verbunden (S. 112, 157).
Themen wie das Welt-Theater, vita contemplativa und vita activa, zirkuläres und lineares Weltbild, Spiel im Spiel sind bekannt; was aber die Autorin daraus macht, ist überaus interessant.
Sowohl die Figuren, wie auch deren Position zueinander, deren sich entwickelndes Zusammenspiel, werden beinahe zu einem Selbstläufer. – Eine Vorstellung von Schicksalhaftigkeit stellt sich ein.
Ein Ehepaar: Er, David, Quasi-Wissenschaftler bzw. Privatgelehrter in Technik und Astronomie, aber in seiner inneren Welt lebend, Eigenbrötler, nervenschwach, kontaktscheu, für geringste Störungen anfällig, anspruchsvoll launenhaft, verstrickt sich in immer intensivere und zwanghaftere Arbeiten; sie, Elena, leitende Redakteurin, stabil, mit Überblick, ausgleichend, beruhigend und beschwichtigend, will Verluste vermeiden, sucht für sich und die Konstellation der Mitspieler die Balance zu halten.
Als Störung der Redaktions-Kollege Markus; wie David ein Egozentriker, will für sich eine andere Arbeitsweise, auch große, strukturelle Veränderungen; hat schon einen Entwurf; sieht sich selbst benachteiligt, strebt einer sogenannten Gerechtigkeit nach, gerät in psychische Schwierigkeiten, wird zweigesichtig (Dorian Gray), brütet gefährliche Aggressionen aus.
Dann die taffe, alleinstehende, von Familie und Beziehung und der unmäßig fordernden Tochter Leonie möglichst unbehelligt sein wollende Wissenschaftlerin Karla.
Zudem der gleich zu Beginn sozusagen "aus den Kulissen" kommende Klaus Wegener mit einem großen Medien-, später Landschaftsarchitektur-Projekt (z. B. S. 189). (Zwischendurch auch: naturnahe Nutzung alter Gebäude [S. 44.], Garten-Gestaltung [S. 104].) Er bringt eine junge, durchsetzungswillige Künstlerin namens Grit mit.
Klaus Wegeners Rolle, Position, Funktion wirkt widersprüchlich, ist schwer zu fassen (S. 44,157, 180). Doch gibt es hiezu ein beeindruckendes Bild (S. 53f.).
Diese Figuren – es werden allmählich auch weitere eingeführt bzw. näher gebracht – haben markante, wenngleich mitunter wechselnde, Anliegen. Es ergibt sich ein Spannungs-Geflecht. Damit sind Auseinandersetzungen vorprogrammiert. (Vgl. S. 92, 95)
Manche wollen unbedingt, obwohl auch das Bisherige gut funktioniert, etwas Neues, als Selbstzweck. (S. 78, 83, 95, 97).
An Elena werden Erwartungen, Erfordernisse, Ansprüche, Belastungen herangetragen.
Elena sucht Ruhe, bemüht sich um Maß und Ausgleich. Doch alles setzt sich in Bewegung, auch das Gefüge der Beziehungen. Auch diese müßten nun geprüft und schon im voraus disponiert werden. (S. 112f.)
Elena: "Im Loslassen kann es auch Verluste geben". Klaus dagegen: mit dem Ende von Altem auch der Beginn von Neuem; "Neues statt Bisheriges. Ist doch schön." (S. 53, 95)
Noch ehe das Projekt ganz abgeschlossen ist, will Klaus bereits ein weiteres anfangen, sein Leben neu ordnen (S. 18f., 83, 156f.). Er hat ein Projekt ohne Elena, dafür mit Grit beendet und präsentiert dieses (S. 189).
Elena möchte auch Muße, "Sein ohne Tun", eigenes "Sosein", "neue Kräfte ohne Zerstörung" (S. 112, 159).
Unter dem Druck mehrfacher und sich steigernder Anforderungen und Belastungen somatisiert Elena bereits, hat Magenbeschwerden, nimmt immer wieder aktuell Tabletten ein.
Passende Bilder verdeutlichen: Zeit und Moment. Ufer und Fluß, Meer. Im Gegensatz zu Lehm und Ton (Keramik) das gediegene, abgenutzte Holz alter Möbel als Kontinuum, doch von der Axt bedroht (S. 67ff., 161). Pendel, Lot und Waage (S. 198). Interessant: Das sogenannte Bettel-Armband Elenas (S. 18f. u. ö.), die klimpernden Armreifen Grits.
Auflockernd mehrere Spielszenen (z. B. Anstreicher [Name: Fabian Köck!], Polizist).
Die Psychologie beschränkt sich aufs Wesentliche, ist aber einfühlsam und überzeugend.
Alles rund um Elena gerät zunehmend in unberechenbare, irrationale, chaotische und bedrohliche Bewegung. Totale Katastrophen bleiben einstweilen noch aus oder werden aufgeschoben.
Elena scheint zum Schluß alle Anforderungen anderer abzuweisen und sich auf ein eigenes Leben zu besinnen; aber wie geht das nur allein und ohne die anderen? Und ist dieses Problem nicht beinahe aussichtslos?
Man nimmt hier auch allgemeine gesellschaftliche Probleme wahr.
Indirekt ergibt sich eine Lehre, die man nicht gern wahrhaben will: Daß eigenes Tun auch Auswirkungen auf andere hat, und – mitunter auch schädliche – auf einen selbst.
Der Roman ist knapp und konzentriert erzählt. Die Konzeption und der Text stecken voller Feinheiten. Reicher, differenzierter Wortschatz. Sehr gute Dialoge.
Sehr spannend! Man würde gern die Seiten fressen. Geht aber nicht, man muß genau lesen …
Ein Meisterwerk! Unbedingt zu empfehlen.
Franz Forster
Wir kennen Sidonia Galls Lyrik, wir kennen ihre Erzählungen. Und nun liegt ihr Roman vor uns. Was alle ihre literarischen Formen verbindet ist ihre exquisite, unverwechselbare Sprache, ob sie beschreibt, berichtet oder erzählt. Ihre Stärke, vielleicht auch ihre geistige Leidenschaft ist das Analysieren, das gedankliche und psychologische Durchdringen ihrer Umwelt, ihrer Mitwelt. Es sind die Tiefenschichten der Seele, um die es geht. So erleben wir Elena, die Hauptfigur des Romans als Beobachterin und Deuterin all jener, die aus den Kulissen, aus dem Dämmer ins Licht der Bühne treten und eine Rolle haben in ihrem Leben. So meistert sie das Geschehen und hält es gleichzeitig auf Abstand.
Elena nennt die Personen der Handlung ihre Figuren. Diese Bezeichnung weist auf die Distanz hin, die auch nötig ist um genau schauen und durchschauen zu können. Die Distanz bleibt gewahrt auch dort wo Sympathie herrscht. Selbst Freundschaft ist nicht ganz frei davon. Elenas Beziehung zu ihrem Ehemann, liebevoll und doch sehr verhalten, sehr besorgt und bemüht um Gleichgewicht ist von seiner Seite durch besondere Symbole der Distanz charakterisiert. Seine wissenschaftliche Arbeit, in der er vollständig versinkt, gilt nämlich den Sternen, den fernsten Phänomenen und Galaxien.
Die Kommunikation der handelnden Personen erfolgt zum größten Teil telefonisch und per Email. Dies ist zwar ein Zug der Zeit, aber auch ein Syndrom des ‚sich vom Leib Haltens‘. Elena selbst erleben wir im Spiegel ihrer Figuren. Denn sie muss mitspielen.
Wir lernen ihre Mitarbeiter kennen und damit das komplizierte Geflecht des Berufslebens. Jeder greift auf seine Weise störend und verstörend in ihr Leben ein. Wir lernen auch 2 ihrer Freundinnen von gegensätzlichen Charakteren kennen. Aber Distanz und Diskretion werden immer gewahrt und gelten auch gegenüber ihrem eigenen Gefühlsleben. Manchmal führt die Handlung an den Rand eines möglichen heftigen emotionalen Geschehens heran, aber es bleibt nur die Ahnung eines solchen.
Sidonia Gall entwirft das Bild einer starken Frau in der modernen Berufswelt. Hohes Pflicht- und Verantwortungsgefühl prägen Elenas Leben nicht nur im Beruf. Sie arbeitet am Rand der Erschöpfung mit wenigen, bewusst zelebrierten Ruhepausen. Die Wörter Genuss und genießen wiederholen sich oft, als Wunschbilder, die nur selten Erfüllung finden. Die Arbeit wirkt manchmal auch wie Selbstschutz vor den Zumutungen des Lebens. Ein Zurückweichen vor den Ansprüchen, die zu zahlreich an sie gestellt werden. Glück? Augenblicke der Zufriedenheit. Und selbst diese sind das Ergebnis eigener psychischer Fähigkeit.
Sidonia Gall hat einen fein durchpsychologisierten Roman von leiser, intensiver Dramatik geschrieben, über das Leben und seine Grenzen des Möglichen. Der Schmerz über diese Grenzen kommt nicht direkt zu Wort. Aber der Lesende fühlt ihn umso tiefer.
Elizabeth Schawerda