Rezension

Peter Paul Wiplinger

Aussichten

Edition PEN im Löcker Verlag, Wien 2021, 138 Seiten
ISBN 978-3-990980859

Er sei jener, der im 81. Lebensjahr steht, schreibt Peter Paul Wiplinger in seinem neuen Gedichtband AUSSICHTEN, wie auch »jener/der gedichte schreibt« und »gerne musik hört«, aber auch – und hier verschlägt es Leserinnen und Lesern zum ersten Mal die Sprache – »jener/der krebs hat« (alle S. 14). Es sind die ersten Gedichte des Buches, die den Rahmen feststecken und keinen Zweifel daran lassen, dass Wiplinger es ernst meint und es ernst meinen muss, da ihm, wie er sagt, stets die Wahrheit wichtig war, und um die führt bekanntlich kein Weg herum.

Die Gesamtheit der Gedichte lese ich wie eine Art Résumé des bisher gelebten Lebens und die Erkenntnis, dass sich die Aussichten, die es noch gibt, in einem zunehmend enger gesetzten Rahmen erstrecken. Zahlreiche Kindheits- und Jugenderinnerungen kommen da hoch, und Wiplinger, der 1939 geboren wurde, sitzen auch die Schrecken des Nationalsozialismus ziemlich in den Knochen – Gedächtnisbrocken, Gesagtes, Gesehenes, dann die grausame Wahrheit über die Konzentrationslager, den Krieg und den Tod. Und manchmal blitzt sogar ein amüsant wirkender kindlicher Zorn auf, etwa wenn er über sein Nazi-Kindermädchen nach »du wirst schon noch sehen/du wirst dich noch wundern//ich werde dich biegen oder/ich werde dich brechen//du fratz du elender nichtsnutz/du verdammter rotzbengel du« und »dann noch zwei saftige ohrfeigen« schreibt: »ich aber schweige die ganze zeit/denke mir und male mir dabei aus//wenn ich einmal groß bin dann/bringe ich dieses naziweib um« (alle S. 24).

Natürlich ist es die Sicht des gereiften Menschen, des Alternden, der über diese Erinnerungen nachdenkt und sie heute in einem anderen und bei Weitem vollständigeren Bild sieht als damals. Und das ist oft schmerzhaft: »(…) wenn du weiterhin/so schlimm bist wie jetzt/dann kommst du in die hölle/und wirst dort fürchterlich leiden/sagte mein nazi-kinder­mädchen/manchmal drohend zu mir//zur selben zeit brannten/in allen kz-vernichtungs­stätten/der nazis die krematoriumsöfen (...)« (S. 25).

Interessanterweise sind alle Gedichte mit ihrem Entstehungsdatum versehen, aus den Jahren 2020 und 2021. Daran lässt sich erschließen, dass die Texte nicht chronologisch angeordnet sind, sondern einer semantischen Struktur folgen. Es würde mich reizen, die Gedichte auch einmal gemäß ihrer Entstehungsabfolge anzuordnen und diese Struktur dann der im Buch gewählten gegenüberzustellen. Womöglich blinzelt da meine germanistische Ausbildung …

Durchgehend verwendet der Autor Kleinschreibung, und alle Gedichte tragen Titel. Eine Vorliebe für zweizeilige Strophen fällt auf, aber es gibt auch andere Formen, und ein kleiner Teil der Gedichte hat überhaupt keine Strophen, sondern läuft in einem durch, was beim Lesen eine gewisse Unruhe oder gar Atemlosigkeit bewirkt, zudem überdies nirgendwo Satzzeichen vorkommen. Die Gedichte bestehen aus freien Rhythmen, und der starke Eindruck, den sie erzeugen, resultiert aus dem Gesagten. Übrigens stammt das Gedicht, das sich auf dem hinteren Buchdeckel befindet und den Titel ICH trägt – als einziges – aus dem Jahr 1976!

In einem der Gedichte sinniert Wiplinger über die akademischen Titel, die in Österreich ach so wichtig sind. Ein solcher schwebte auch dem Vater des Autors für seinen Sohn vor, weil er nämlich selbst keinen hatte und im Leben feststellen musste, wie viel Wert in unserem Land darauf gelegt wird. Peter Paul Wiplinger war dann, wie er schreibt, auf einem guten Weg, brach das Studium aber ebenso wie der Vater vor dessen Beendigung ab. Wie in Vaters Jugend »wegen der schlechten zeiten«. Dass ihm später vom österreichischen Bundespräsidenten der Professorentitel verliehen wurde, hat ihm nicht mehr viel bedeutet, doch der Text enthält den gefühlvollen Satz: »könnte ich die zeit zurückdrehen dann würde ich/heute allein schon meinem vater zuliebe/den doktor machen«. (S. 31)

Peter Paul Wiplinger kann gleichermaßen mit Augenzwinkern und einer gehörigen Portion Zynismus formulieren. In REGELWERK heißt es am Beginn: »solche klugscheißersprüche darf man/in einem gedicht nicht verwenden/sagst du und ich entgegne/wer zum teufel stellt denn/solche regeln auf und verbietet mir/klugscheißersprüche in einem gedicht/zu verwenden«. Die Diskussion um Erlaubtes und Unerlaubtes mündet schließlich in die harte Aussage: »ich soll also das jetzt wichtigste in meinem leben/aus meinem schreiben ausklammern weil unfein/ich soll diesen scheißkrebs und die scheißsprüche/nicht so nennen wie ich das im wirklichen leben tue/weil das dem regelwerk der ästhetik nicht entspricht/weil die wahrheit nicht fein genug ist für die poesie«. (S. 72)

Die Krebserkrankung wird immer wieder angesprochen – sie ist eben, wie Wiplinger formulierte, derzeit das »wichtigste« im Leben des Autors. Demgegenüber findet sich diese verbale und gleichzeitig empfundene Verbeugung: »das leben ist schön steht/als graffito an einer mauer//in völliger unsinnigkeit/verbeugst du dich davor//es ist der erste frühlingstag/das leben meint es gut mit dir« (S. 129). Ganz anders das ABSCHIEDSGEDICHT, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte: »wissen daß es sicher/die letzten gedichte//sein werden oder sind/die du noch schreibst//(...)geh hinaus in die kälte der nacht/gehe hinein in die lautlosigkeit«. (S. 19) Lieber Peter Paul Wiplinger, bleib noch ein wenig im Warmen, in der Sprache, die dein »haus« war und ist, beim Wort, das dir »tisch und bett« bedeutet. Schenk uns weiterhin noch möglichst viele deiner wunderbaren Gedichte; alles Gute dafür!

Klaus Ebner

 

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