Rezension
Georg Bydlinski
Blättervogel
Gedichte. Mit Fotos von Birgit Bydlinski
Edition Tandem 2024, 72 Seiten
ISBN 978-3-904068-99-4
Schon der Titel von Georg Bydlinskis jüngstem Lyrikband „Blättervogel“ lässt sich auf vielfache Weise deuten: Die Covergestaltung zeigt einen Vogel aus Laubblättern, das haptische Buch weckt natürlich Assoziationen mit Papierblättern, mit dem Akt des Umblätterns. Ebenso vielschichtig und offen erscheinen die poetischen Augenblicke, die lyrischen wie die fotografischen, in die wir beim Lesen Seite für Seite neu eintauchen. Jedes Foto und fast jedes Gedicht bekommt seine eigene Seite, seinen eigenen Atemzug, seinen eigenen Raum – die beiden längsten Gedichte sind im dritten Abschnitt „Südwärts“ versammelt und dürfen sich, einer Reise entsprechend, über längere Strecken ausdehnen.
Geistige Ausbreitung, Horizonterweiterung und Erholung ziehen sich auch als Motive durch den gesamten Band: Wir schlendern durch „Gärten in denen wir / aufatmen“ (S. 43), „immer leichter werdend / im Aufwind der Vorfreude / als wäre der uns erwartende Zug / ein luftiger Ballon“ (S. 61). Kein Blatt, kein Blick ist zu flüchtig für den Blättervogel, der mit jedem noch so unerheblich scheinenden Augenblick auf den Schwingen des Windes an unseren Augen vorbeifliegt. Das punktuelle Aufgehen im Hier und Jetzt wird in „Blättervogel“ zelebriert. Jede der Schwarzweiß-Fotografien, jedes der Gedichte ist eine eigene, kleine Welt. Wenn wir es zulassen, können wir beim Lesen Blatt für Blatt mit ihr wandern („Im Morgenlicht // offen sein / wie das Fenster“, S. 30), sodass sich Sorgen und Unmut Seite für Seite auflösen: „Nach der langen Kurve / im Schatten der Flussbäume / treiben die Fragen / wie Blätter davon“ (S. 13).
Die meisten Gedichte erzählen von magisch-melodischen Momenten, die in ihrer Alltäglichkeit und Poesie ungemein vertraut wirken. Doch manchmal holt uns Bydlinski auch wieder auf den beschatteten Boden der Realität zurück, so etwa in „Mutter, nach dem Schlaganfall“ (S. 41) – ein sehr kraftvolles, sehr facettenreiches Gedicht, das mit einer Leuchtkraft schimmert, wie sie an anderer Stelle so treffend beschrieben wird: „Blick in den Garten: / Die Panzer der Schildkröten / glänzen im Regen“ (S. 31)
Mara Scherzer (2024)