Rezension
Sonja Henisch
Bösenstein
Ein österreichisches Sittenbild.
Anima incognita Edition 2022, 332 Seiten
ISBN 978-3-7543-3380-8
Undercover im Pool des Bösen
Eine verstaubte Hitleruniform taucht plötzlich am Dachboden auf und lässt einen Jugendlichen namens Daniel, der sie entdeckt, unsichtbar werden. So kann er die Welt undercover beobachten und erlebt erschreckende Zustände.
Warum ihn ausgerechnet eine Hitler-Uniform unsichtbar macht? „Die Uniform ist ein Sinnbild dafür“, sagt Sonja Henisch, „dass Nazi-Gedanken und Fremdenhass von unserer Gesellschaft einfach unter den Teppich gekehrt werden.“
Sonja Henisch spielt mit Metaphern. Der Ort G. wird als „Bösenstein“ entlarvt, indem die Autorin die finstersten Obsessionen der Dorfbewohner freilegt. Als eine Bande von Neo-Nazis, angeführt von einem Hauptschullehrer, ein polnisches Schulmädchen vergewaltigen will, wird dies von Daniel hinter seiner Tarnuniform vereitelt. Aus Unmut darüber entsteht bei den Triebtätern die „b’soffene“ Planung der Brandlegung eines Asylantenheimes. Der Fremdenhass in Bösenstein nimmt immer extremere Ausmaße an, als eine muslimische Asylantenfamilie in das Haus von Daniels Vater einzieht. Plötzlich geht auch dieses Haus in Flammen auf. Hinter dem finsteren Plan der Brandstiftung steckt wieder der Hauptschullehrer.
Die ganz alltägliche Gewalt regt in Bösenstein niemanden auf. Hingegen bringen die Zeitungen Meldungen über muslimische Vergewaltiger, die in ihre kriegslodernde Heimat abgeschoben werden sollen. Daniel versteht die Welt nicht mehr: „Und was wäre mit den Bösensteinern zu tun?“ fragt er sich. „Wohin soll man die schicken, die sich an ihren Töchtern und Enkelinnen vergangen haben?“
Das falsche Gutmenschenspiel, das alles zudeckt, ermöglicht, dass das Böse in Bösenstein und Umgebung ungestraft wuchert. Niemand, nicht einmal eine Lehrerkollegin, und schon gar nicht die Polizei, will glauben, dass hinter der Brandstiftung von Daniels Vaterhaus der „unauffällige“ Musiklehrer steht. Und auch der Sohn des Bürgermeisters fliegt in seinen finsteren Machenschaften nicht auf, oder vielmehr darf nicht auffliegen, weil er zur Dorf-Oberschicht gehört, genau wie die beiden anderen Neo-Nazi-Kumpels des Lehrers. Dieser malt indessen mit weißer Farbe ein Hakenkreuz an eine Felswand und wird dabei von Daniel beobachtet.
Nichts von all diesen geheimen Wucherungen des Bösen würde je nach außen dringen, wenn sich hinter der Tarnkappe der Hitler-Uniform nicht ein Bub verbergen würde, der alles aufdeckt, ohne freilich selbst immer etwas damit anfangen zu können. So fungiert er als naiver Beobachter und lässt den Leser selbst zum Aufdecker werden. Doch so viel Niedertracht kann Sonja Henisch nicht stehen lassen. Das Nazikreuz wird mit einem Herz übermalt. Das Symbol der Liebe siegt über den Hass.
Auf dem Ladentisch meines Buchhändlers landete in den letzten Jahren, nach einem kurzen Blick in die österreichischen Neuerscheinungen, ein Berg von Büchern englischer Autorinnen und Autoren, und natürlich die neueste Isabel Allende.
Dorfgeschichten, wie sie uns Sonja Henisch in ihrem Buch präsentiert, waren ungefähr das Letzte, was ich lesen wollte – bis mir auffiel, dass Isabel Allende ja auch nichts anderes macht, als lateinamerikanische Dorfgeschichten zu erzählen. Sonja Henisch entführt uns in die österreichische Dorfwelt. In Großmutters Erzählton lockt sie uns in eine ländliche Gemeinschaft und zwingt uns, einen Blick auf die nackte Wahrheit zu werfen. Der Ort Bösenstein wird zur Bühne der Dramen, die sich überall auf der Welt ähnlich abspielen könnten. Und dann passiert etwas, mit dem man in der gegenwärtigen Literatur kaum mehr rechnet: Man kann nicht aufhören zu lesen! Man will unbedingt wissen, wie es weitergeht …
Ingrid Schramm (2024)