Rezension
Annett Krendlesberger
Daliegende.Unbewegt
Lyrik.
fabrik transit 2023, 137 Seiten
ISBN 978-3-903267-58-9
Ein faszinierender Band aus Lyrik, lyrischer Prosa und einem beeindruckenden Spiel mit den Möglichkeiten der deutschen Sprache liegt von Annett Krendlesberger vor. Klar ist von der ersten Zeile an: nur durch das Wort wird das Gesehene real. Die Erzählerin ist mehr als ein lyrisches Ich, hier wird tatsächlich eine Geschichte erzählt, eine Entwicklung beschrieben, ein Zustand angeprangert, eine Situation festgehalten.
Die Stimme gehört einer Frau, die beobachtet und mit Worten fixiert. Das geschieht in einer Art zielgerichtetem Monolog, von Anfang an gedacht als Zwiegespräch mit einer anderen Frau, die, dem Tod entgegenröchelnd, in einem Bett liegt, ruhig gestellt vom Schicksal. Dabei muss sie doch ebenfalls wie alle rundherum Lebenden ein Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft sein, voller versteckter Bilder, erinnerter Wahrheiten! Ist noch wirklich, was in ihr verborgen ist? Die Frau, getrieben von Neugier und tiefem Mitgefühl, nennt die Daliegende Eva, bezeichnet sie als Anfang, erkennt in ihr eine Wurzel ihrer eigenen Präsenz. Sie erschließt sich das Umfeld der Älteren, indem sie deren Ankerplatz, das Sterbezimmer, bespricht, hoffend, dass Eva etwas davon aufnimmt, vielleicht Orientierung gewinnt. Die Sprache wird zu keinem Geländer, aber die nebulosen Chimären verwandeln sich in farbenfrohe Körper mit ertastbaren und erfahrbaren Grenzen. Kein Zerrinnen, kein Verlaufen mehr. Die richtigen Wörter verschaffen Struktur und erschaffen die sich erweiternden Möglichkeiten der Hoffnung. Sie will mit ihrem Vordringen, Entdecken und Verstehen auch Simon, dem Sohn der Sterbenden, diese sich entfernende Mutter verständlicher machen.
Ganz sachte führt Annett Krendlesberger eine weitere Facette der Beschreibung ein: Liebevoll und punktgenau gewählt, verwendet sie Werke von Künstlerinnen der österreichischen frühen Moderne. Indem sie den Dialog zwischen Betrachter und Bild oder Skulptur heranholt und als etwas sehr Persönliches, sie selbst Betreffendes seziert, zeigt sie das in großer Stille verlaufende Aufeinanderprallen von gegenwärtigem und vergangenem Leben. Erschaffene Figuren und Menschen begleiten nicht nur das verlöschende Wesen Evas, sondern definieren auch in der Gegenwart das Miteinander von Frau und Frau, von Frau und Mann. Diese in Szene gesetzten Bloßstellungen Unbekannter führen zu neuen Fragen, Verunsicherungen, Perspektiven.
Mit den Möglichkeiten der Rhythmik und Klangfarben der Wörter erschafft Krendlesberger ungemein musikalische Sequenzen. Einer der vielschichtigsten und berührendsten Texte ist „Hätte ich eine Decke gehabt“. Die Hilflosigkeit im Angesicht des Todes und der aufwallende Wunsch, etwas Gutes tun zu können, die Ohnmacht des Konjunktivs und dazu die vielen geradezu querschießenden Details, die Krendlesberger auswählt, verflechten sich hier zu einer Tapisserie, die das große Thema Empathie beeindruckend darstellt.
Dieses Buch rezensieren zu dürfen hat sich für mich als Geschenk herausgestellt. Die „Verse“ mit ihren ungewöhnlichen Verknüpfungen und den starken visuellen Reizen bleiben in Erinnerung, das sensible Nachwort von Birgit Schwaner bietet weitere Ansätze, um sich mit diesem ungewöhnlich dichten Werk auseinander zu setzen, die Fotos der ausgewählten Kunstwerke offenbaren die handwerkliche Qualität des Verlags. Daliegende.Unbewegt ist Literatur, die politisch ist und ein Kunstwerk, das ein Leben begleiten kann.
Beatrix Kramlovsky (2024)