Rezension
Rosemarie Schulak
Das andere Brot
Die Geschichte einer Selbstwerdung
deltaX-Verlag 2020, 346 Seiten
ISBN 978-3-903229-19-8
Georg, der Protagonist der Erzählung „Das andere Brot“, ist in den frühen Dreißigerjahren als Baby von seiner Mutter im Stiegenhaus eines Klosters ausgesetzt worden. Als Findelkind wird er der Kleinbauernfamilie „B.“ übergeben, wo er Kostkind und Arbeitskraft ist. Niemand weiß genau, wie alt er und woher er gekommen ist, diese Ungewissheit verunsichert den schweigsamen Buben zutiefst, da er nicht zu den Kindern im Ort dazugehören kann, weil er keine Eltern hat wie die anderen. Als er in der Schule eines Tages doch zu reden anfängt, ist sein Redeschwall unverständlich und ohne Zusammenhang mit dem Unterricht, sodass ihm die Lehrerin den Mund mit Leukoplast zuklebt. Das Pflaster muss zwar wieder entfernt werden, aber Georg hat seine Lektion gelernt, er schweigt wieder. Aus diesem Nichtredenkönnen und Nichtredendürfen entwickelt Rosemarie Schulak die Geschichte einer schwierigen, schmerzhaften, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz positiven „Selbstwerdung“.
Da Georg nur die Volksschule besuchen darf, fängt er nach Ablauf der Pflichtschuljahre als Lehrling in einer Bäckerei an, wird vom 2.Weltkrieg überrascht, als kaum Fünfzehnjähriger zum Volkssturm eingezogen, und schlägt sich in der Auflösung der Wehrmacht durch nach Linz, wo er in einem Bäckerladen vorübergehend unterkommt. Zurück in Wien bei seiner ersten Firma, gelingt es ihm, die Lehre abzuschließen, die Gesellenprüfung zu bestehen und zum ersten Mal ein Zimmer in Untermiete zu beziehen, stolz auf den Status des Untermieters, der nicht mehr in einer Besenkammer des Kostgebers hausen muss, sondern vom selbst verdienten Geld ein Zimmer mieten kann.
Georg fühlt sich mit Büchern wohler als mit Menschen, die ihm die Anerkennung verweigern, und man erlebt bei der Lektüre eine fantastische Odyssee des einsamen Buben, der in Antiquariaten Rat und Orientierung sucht und von älteren Buchhändlern Werke von Sophokles, Ovid, Lukian, Shakespeare, Goethe, Demosthenes, Kant etc. empfohlen bekommt. Seine Grundhaltung erklärt Rosemarie Schulak so: „Er bezieht jedes Wort, das er liest, auf sich, und zieht daraus eine Lehre.“
Die mit wenigen kleinen Rückblenden chronologisch erzählte Geschichte schafft den Spagat zwischen der anspruchsvollen, autodidakt-naiv aufgenommenen Lektüre und den Erlebnissen in der Freizeit, Stehplatz im Theater, erste Freundschaften, wobei er seine inneren Konflikte weiter verschweigt, aber in Gesprächen, auch mit Frauen, langsam lockerer wird. Eine Krankheit zwingt ihn, den Beruf zu wechseln, und er landet bei einer Hoch-, Tief- und Straßenbau-Firma im Büro, bei einer Arbeit, von der er als Kind schon geträumt hat, nicht ohne Unterstützung durch eine Freundin, die ihm ihre Schreibmaschine borgt und später seine Frau wird. Maturaschule ist neben der Berufsarbeit nicht leistbar, Georg lernt massiv im Leben und kann mit seinen Nachdenkversuchen das konkrete Leben in den Blick nehmen und sein Verhalten ändern.
Ein wesentlicher Persönlichkeitszug Georgs scheint mir sein Wille zur Versöhnlichkeit zu sein, die hohe Lernbereitschaft und Geduld mit anderen. (Das derzeit vielerorts besprochene Merkmal „Resilienz“ liegt nahe.)
Rezensentin: Annemarie Moser