Rezension
Rosemarie Schulak
Das andere Brot
Delta X Verlag, Wien 2020, 340 Seiten
ISBN 978-3-903229-19-8
Diese außergewöhnliche und berührende Geschichte beginnt in der Mitte der 1930er Jahre. Unter unfassbaren Bedingungen verläuft, von Beginn an das beschwerliche Leben eines heranwachsenden Kindes. Das Neugeborene, ein Knabe, wurde nach der Geburt auf den Stufen einer Kirche abgelegt.
Die existenziellen Fragen, die sich danach ergaben stellt Rosemarie Schulak bereits im Vorwort und markiert damit die beeindruckende Entwicklung eines Menschen mit nahezu ungebrochenen inneren Kräften. Es geht um die Überwindung von Isolation, von äußeren und psychischen Belastungen ebenso, wie um die Sehnsucht nach einem sinnvollen und gedeihlichen Leben.
In einem Dorf fernab der Stadt kam ein fremder Knabe ohne Dokumente, genannt Georg, als „Kostkind“ zur Familie B. Der erste Schultag versetzte den schweigsamen, in sich versunkenen Buben in eine unbekannte Welt. Doch … eines Tages redete es ganz von selber aus ihm…(S.14). Da sein plötzlicher Redeschwall als Störung empfunden wurde, klebte ihm die Lehrerin den Mund zu. Er wäre dabei fast erstickt. Wenn er später wieder reden wollte, hörte ihm niemand zu. Zur Ruhe gezwungen und von vielem ausgeschlossen, wurde er allmählich zum genauen Beobachter. Versteckt unter den Sitzreihen im Dorfkino, gewann er prägende Eindrücke vom Verhalten der Menschen auf der Leinwand, die ihn dann auch im realen Leben begleiteten. Sein Selbstbewusstsein wuchs, auch gegenüber seinen „Kostgebern“, da es ihm gelang, die geheimen Kinobesuche unbemerkt in seine täglichen Pflichten einzubauen. Als einmal entdeckt wurde, dass er die Reste von Grießnudeln unerlaubt gegessen hatte, drohte ihm Herr B. mit Schlägen. Er konnte entfliehen und wurde vorüberghend von den Eltern des Herrn B. aufgenommen. Mit Staunen sah Georg dort Regale mit Büchern. Zwar kann man Bücher nicht essen, meinte der Vater des Herrn B…,doch eigentlich schmecken sie besser als Grießnudeln,… Manchmal sogar noch besser als Brot, und einmal wirst du es wissen. Natürlich nur, wenn du lernst, sie richtig zu lesen…Dann, … gehören sie dir. …Ein anderes Brot, ergänzte der alte Mann…(S.35).
Knapp vor Ende des Krieges, musste Georg die Bäckerlehre, die er mit Begeisterung begonnen hatte, abbrechen, da er als Fünfzehnjähriger zum Volkssturm nahe Linz einberufen wurde. Später gelang es ihm, sich mühsam auf dem Dach eines Zuges haltend, Wien zu erreichen. Er fühlte nur: Er hat keine Heimat, kein Ziel. Genaugenommen nicht einmal sich selber (S.93). Eine innere Kraft, vielleicht der Impuls, dass er nun seine Bäckerlehre fortsetzen konnte, trieb ihn an, nicht aufzugeben. Trotz sehr belastender Umstände und aufkommender gesundheitlicher Störungen versuchte er, nun schon als Geselle, sich durch das intensive Lesen von Büchern Wissen und Erkenntnisse anzueignen und eine gewisse Lebensorientierung zu gewinnen.
Er leistete sich eine angenehme Unterkunft in einem besseren Stadtteil. Die neue Gegend ist für ihn ein magischer Ort. Natürlich weiß er noch nicht, ob er…hierher passt und was tun mit diesem völlig neuen Glück. Er hebt ab wie ein Flugsamen, der mit dem Wind aus dem Staub hinauf in die klare Luft steigt, fast bis an die Wolken (S. 117f). Und er...möchte dem Schönen, das ihn manchmal geradezu überrollt, auf die Schliche kommen (S.126 f).
Sein Wunsch, Kontakte möglichst nur zu gleichartig Interessierten zu pflegen verringerte nicht nur seinen Freundeskreis, sondern beendete auch behutsam gehütete Liebesbeziehungen. Nie werden Georg seine Zweifel verlassen, die tief innen immer Verzweiflungen sind.(S.149). Er wird allein leben müssen, denkt er, aus freien Stücken. Allein für immer….Vertane Zeit. Die Liebe?(S.204). Die Enttäuschung war jedoch nie stärker als sein Streben nach Wissen und Erkenntnissen.
Bald aber begegnete er einer Frau, mit der er endlich angeregte Gespräche führen konnte. Voll Hoffnung und Optimismus spürte er durch die wachsende Vertrautheit, dass für ihn nun eine bessere Zeit beginnen würde. Stückweise und in Etappen begann sich in ihm Unvereinbares und Gegensätzliches aus Erlebtem und Befürchtetem abzumildern und langsam schien auch die Zähmung der Angst möglich zu sein.
Die Lyrikerin und Prosaschriftstellerin Rosemarie Schulak hat in diesem Opus magnum dank ihrer vielseitigen Kenntnnisse aus Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte und Pädagogik ein literarisch dicht in sich verbundenes Werk geschaffen. Das Heranwachsen des einsamen Kindes, die Unbeirrbarkeit eines jungen Mannes, der immer wieder mit neuen Untiefen der Realität zu kämpfen hat und letztlich in der Vielfalt geistiger Erkenntnisse Stütze und Bereicherug findet, wird einzigartig dargestellt.
Das Werden und Entwickeln lässt die Autorin herankommen und einfach sein, ohne einengende Fixierung. Mit klaren, berührenden Sprachbildern schafft sie die Zugänge zu komplexen und beeinduckenden Gedankenwelten.
Lesende, die auch das Nichtgesagte wahrnehmen, können in diese Lebensarchitektur eines Menschen eintreten und die dramatischen Vorgänge nah und doch ohne emotionale Überfrachtung, aber mit Blick in die Weiten und Tiefen der Seele, miterleben.
Rezensentin: Sidonia Gall