Rezension
Dario Calimani
Der Jude auf der Kippe
Essay. Aus dem Italienischen von Hans Raimund.
Löcker Verlag 2023, 170 Seiten
ISBN 978-3-99098-172-6
Erinnerungen mit Zukunftscharakter
Dario Calimani wurde 1946, also kurz nach Ende des Weltkrieges, in Venedig in eine jüdische Familie geboren. Er studierte englische Sprache und Literatur und wurde ordentlicher Professor für englische Literatur. Gleichzeitig war er, ebenso wie sein Vater, viele Jahre in der jüdischen Gemeinde von Venedig tätig. Sein Buch »Der Jude auf der Kippe«, das nun in der deutschen Übersetzung von Hans Raimund bei Löcker erschien, ist eine Art Erinnerungsessay, der vor allem die Stationen der eigenen Erfahrungen in der Nachkriegszeit durchleuchtet und zu zeigen versucht, was es heißt, in einer Welt nach der Schoah Jude zu sein.
Die italienischen Faschisten setzten die jüdische Bevölkerung zwar von Beginn an unter Druck, wie etwa in den Romanen eines Giorgio Bassani nachzulesen ist, doch die lebensbedrohende und vernichtende Verfolgung setzte erst mit dem Pakt zwischen Mussolini und Hitler ein. Auch aus der Familie von Dario Calimani wurden viele von den Faschisten und Nazis ermordet. Er selbst bezeichnet sich nicht als Kind, sondern als Enkel der Schoah.
Was bedeutet das? Er wuchs in einem Familienumfeld auf, das zahlreiche Mitglieder auf bestialische Weise verloren hat, das jene, welche die Konzentrationslager erfahren mussten, verstummen ließ und nur selten zu kurzen »Ausbrüchen« führte, in denen es aus Erwachsenen plötzlich hervorbrach: das maßlose Leid, jahrelang verschwiegen und ignoriert, das die Menschen allerdings für immer zutiefst verletzt und beschädigt hat.
Calimani erzählt aus der Position des Erlebenden; des Kindes, das nur in winzigen Portionen erfährt, was eigentlich passiert ist, und das bereits in der Schule mit seinem Jüdischsein konfrontiert wird, in der Regel in sehr unangenehmer und menschenverachtender Weise, ohne dass die Zusammenhänge noch greifbar gewesen wären.
Sticheleien, dümmliche Anspielungen und arrogante, mehr oder weniger versteckte Vorwürfe hörten niemals auf, und Calimani musste oftmals die Erfahrung machen, dass er auf den »Juden« reduziert wird – völlig ungeachtet seiner Leistungen auf literaturwissenschaftlichem Gebiet, aber auch ungeachtet der Tatsache, dass er als Italiener bestenfalls eine gewisse emotionale Bindung zum Staat Israel hat. Denn die Gesellschaft, musste er leidvoll erkennen, macht für etwaige Verfehlungen Israels bequemerweise alle Juden verantwortlich, ganz egal, wo sie leben und welche Weltanschauung sie haben.
Ein deutscher Wissenschaftler, den Calimani als »ganz und gar nicht antisemitisch« bezeichnet, stellte im Rahmen einer Konferenz die Forderung auf, die Schoah und eine Verantwortung Deutschlands und Österreichs sollten mehr oder weniger in der Abstellkammer der Geschichte verschwinden. Er bezeichnete in diesem Zusammenhang die heutigen Deutschen als Opfer und »die Juden« als Täter. Diese unerhörte Verdrehung der Tatsachen empörte Dario Calimani zu Recht, und sie zwang ihn, diesen Gedanken genau zu analysieren. Er kam zu einem aus meiner Sicht guten Schluss: Er wolle den Nazitätern niemals verzeihen, aber den Nachkommen der Täter und Mitläufer diese Verbrechen auch niemals zum Vorwurf machen; und vor allem dürfe die Erinnerung niemals getilgt werden! Es ist wichtig, dass wir diese unsere Geschichte kennen; nicht mit Schuldgefühlen, sondern mit Einsicht, Verständnis und dem Bewusstsein, dass sich ähnliches durchaus wiederholen könnte, insbesondere dann, wenn wir von den historischen Ereignissen nichts mehr wissen.
Hans Raimund sorgte für eine exzellente Übersetzung, und dafür gebührt ihm großer Dank. Der Erinnerungsessay »Der Jude auf der Kippe« von Dario Calimani ist ein eindringliches und lehrreiches Buch. Vor allem aber ist es ein wichtiges Buch.
Klaus Ebner (2024)