Rezension
Denial Bahtijaragic
Die Bogomilischen Gräber
Roman
Castrum 2022, 148 Seiten
ISBN 978-3-200-08264-9
Erst mit resp. nach der Lektüre erschließt sich der Sinn des Titels und der Grafik auf dem dunkelgrünen Schutzumschlag. Bogomilische Gräber, das wird nicht erklärt. Dabei handelt es sich (gemäß Internetrecherche des Verfassers) um kleinere steinerne Blöcke, auch Stelen, einer früheren, seit einigen Jahrhunderten nicht zuletzt aufgrund kreuzzugartiger Inquisitions-Abfolgen nicht mehr existenten christlichen Glaubensgemeinschaft. Die Bedeutung ist nicht eindeutig geklärt; eindeutig, und das spricht für dieses/zu diesem Buch, ist die Bestimmung als Erinnerungsort. Die Abbildung ihrerseits setzt 465 Särge von Opfern aus Srebrenica in einer scharfen zentralperspektivischen grafischen Umwandlung ein. Damit wird ein Bogen geschlagen zu den Verfolgungen anderer Religionen und zur Gegenwart.
Diese Bezüge betreffen den 14-jährigen Ich-Erzähler Almas, Sohn eines bosnisch-muslimischen Vaters und einer serbisch-orthodoxen Mutter. Im Privaten gibt es nur die gleichsam natürlichen Beziehungs-Spannungen, die sich allerdings mehr und mehr durch die äußeren widrigen Umstände zu Auseinandersetzungen zusammenballen: 1992 erfasst der Bürgerkrieg die nordwestbosnische Stadt Prijedor und bringt nach und nach das öffentliche und private Gefüge in schwere Turbulenzen. Die ersten zwei Kapitel handeln von der schleichenden Verschlechterung, von dem in vielen kleinen Partien des Alltäglichen nahenden Untergang der gewohnten Welt. Als der Vater, ärztlicher Leiter des Stadtspitals, zur Zielscheibe wird, bleibt der Familie nur die reichlich spannungsreiche Flucht.
Die Kleinfamilie landet auf Umwegen in Wien, das eigentlich lediglich als Zwischenstation gedacht ist. Dementsprechend karg sind die Verhältnisse, bis hin zum äußerst beengten Wohnen in Ottakring. Alle weiteren Ziele – Frankreich, Kanada, gar Australien – fallen trotz aller Bemühungen dahin. Also bleibt infolge der Nichtanerkennung der Ausbildung und der beruflichen Tätigkeit nur das Notarrangement in der Aufnahme von Hilfsarbeiter-Stellungen durch die Eltern. Es wird ein bleierner Alltag. Almas lernt Deutsch, aber das passt hier nur äußerlich in die österreichische Umwelt. Vielmehr bestimmen die Entwicklungen auf dem Balkan auch hier weiterhin vieles: Nach der eingestellten Teilnahme an den Treffen ebenfalls Vertriebener, die sich zunehmend zuspitzen, sind es vor allem die Nachrichten, welche über die immer dramatischere Situation berichten; neben die Ereignisse rund um »Sarajewo« tritt, als Katastrophe persönlich beängstigender, die serbische Einnahme Prijedors. Die Unmöglichkeit einer Rückkehr, sinnbildlich im Tod der zurückgebliebenen Großmutter als letztem örtlichen Bezugspunkt, lässt Almas sich immer stärker in sich zurückziehen. Das Buch schließt mit einer Art Vision, in der zahlreiche Grabinschriften auftauchen: Der stete Bezug zur Heimat bleibt zwangsweise in ihnen widersprüchlich.
Der Autor beherrscht in beeindruckender Weise die Kraft, stets im Blickwinkel und in der Sprache des Heranwachsenden zu bleiben und doch mittels der beobachteten Ereignisse und Fährnisse die sich wandelnde Welt, die Erfahrung der Flucht und des Fremdseins in sehr eingängiger Weise zu schildern, ergänzt durch die Kommentierungen vor allem des Vaters und der Reaktionen der Mutter: Das familiäre Umfeld wird zum Spiegel der katastrophalen Entwicklung, zugleich aber zur Quelle von niemals aus dem gegebenen Rahmen fallenden, gleichwohl tiefen Reflexionen. Vor allem die ersten beiden Kapitel sind dabei sehr überzeugend in den sich ergänzenden, aufmerksam berichteten und oft in nur scheinbar einfachen Wechseln sich zeigenden Veränderungen: nicht nur als ein roter Faden sondern weit mehr als eine gekonnte altersgerechte Charakterisierung der Gesamtsituation, indem das Gewohnte und zuvor als positiv Erlebte Stück für Stück immer unsicherer wird, die Schwere primär in den Reaktionen der Erwachsenen spürbar wird. Dementsprechend bleibt die Sprache einfach und klar und verlässt doch keineswegs den belletristischen Anspruch. Die »Wiener Kapitel« 3–5 weichen diese grandiose Konsequenz dann mehr und mehr auf durch meditative, über die Aktualität hinausweisende Überlegungen zu Farben (wie der Stadt selber), Einflüssen (wie Engel) und Bildern (wie die klopfende Dunkelheit): So wie äußere und innere Verstrickungen letztlich in den als zahlreichen Erinnerung zusammengestellten, im Buchtitel angesprochenen Grabinschriften ihr Ende finden.
Mit dem zweifellos lesenswerten kleinen Buch liegt des jungen Autors Debutroman vor. Sein Vermögen lässt für folgende Arbeiten Bahtijaragic’ sicher weiter Qualitätvolles erwarten.
Martin Stankowski (2023)