Rezension
Jean Perron
Die einfache Ekstase des Atmens
Gedichte. Übersetzt von Reinhard Lechner.
Verlag Klingenberg 2024, 117 Seiten
ISBN 978-3-903284-31-9
Lyrik oder besser: Poesie, wir wissen es, fristet trotz mancher Preise und des einen oder anderen Symposions im lauten Literaturbetrieb ein Schattendasein. Selbst in größeren und großen Verlagen erreichen Gedichtbände selten mehr als 1000-2000 Stück Auflage, in kleineren Verlagen kaum mehr als ein paar hundert. Dem gegenüber stehen zahlreiche Internetforen für Lyrik, die sich eines großen Zuspruchs erfreuen, und immer noch schreiben Menschen Gedichte und senden Manuskripte an Lektorate in der Hoffnung auf Publikation.
Umso erfreulicher, dass es (überwiegend Klein-)Verlage gibt, die Gedichtbände herausbringen, manche sogar in extra dafür vorgesehenen Reihen, und nicht selten schön gestaltet, wohl wissend, dass damit kein großes Geld zu machen ist. Der junge, 2017 gegründete Verlag Klingenberg mit Sitz in Graz zählt dazu. Und seiner Initiative ist es zu verdanken, dass es mit dem Frankokanadier Jean Perron eine hierzulande unbekannte lyrische Stimme zu entdecken gilt. L’extase simple de respirir / Die einfache Ekstase des Atmens heißt der Auswahlband, der, zweisprachig und versehen mit Photographien des Autors, die allesamt Landschaftsmotive zeigen, einen ersten Einblick in das erstaunlich große OEvre des Dichters gibt. Vierzehn Gedichtbände, neun Romane und einen Erzählband hat Perron bislang herausgebracht. Der vorliegende Band ist die erste deutschsprachige Publikation, der weitere folgen mögen.
41 Gedichte versammelt Die einfache Ekstase des Atmens, gruppiert in fünf Kapiteln, die jeweils ein Gedichtzitat als Titel tragen: „Die erde unter meinen schritten nimmt die süße der luft auf“, „Ein windhauch lässt die haut vibrieren“, „Das gras wird von präsenzen durchzogen“, „Eine wolke beatmet die erde mund zu mund“ und „Der wind in den bäumen spricht alle sprachen“. Schon die Titel lassen darauf schließen, dass die Gedichte um Natur, Landschaft, auch Alltagsbeobachtungen kreisen. Ob dies signifikant für Perrons Werk ist oder an der Auswahl liegt, lässt sich nicht beurteilen. Erst in die Gedichte des letzten Teils mischen sich vorsichtig politische bzw. gesellschaftskritische Töne. Dabei sind die Gedichte fern von billiger Naturseligkeit oder Klischees und überraschen bisweilen mit gewagten oder ungewöhnlichen Bildern und Formulierungen. Im Eingangsgedicht „vibration“ heißt es: „während man eingesperrt bleibt / in seinem leben / wie in der blackbox / eines abgestürzten flugzeugs“, in „der raum des lebens“ stößt man unversehens auf das „geröll der wolken“, in „geheimnis“ auf die Verse: „plötzlich / erhebt sich ein langer ton / fern jeder musiklehre / das zirpen einer zikade“. Es finden sich ein „erdbeerfleckiger himmel“, „schlummernde fenster“ und „die nacht nimmt den erschöpften tag bei der hand“; und unversehens stößt man auf aphoristische Sätze wie „ich werde immer das umherirren dem irrtum vorziehen“ und „trotz der winzigkeit der welt / entfalten die kleinen dinge ihre größe“.
Kleine Dinge, das ist für Perron das abseits Liegende, das sich nicht im Fokus einer geschäftigen Gesellschaft befindet und erst nach langer geduldiger Betrachtung Bedeutung und Gewicht erlangt, wie das Gedicht „rausch“ bezeugt:
strandtag unterm regen
die hügel haben den trüben blick
in den schritten
irren tropfen umher
der sand vergräbt sich unter den wolken
von der sonne verlassen
und seiner masse von anhängern
bietet der strand sich in aller stille
dem regenschauer an
vage konstruktionen aus sand
bröckeln
das ufer findet sein geheimnis wieder
gestalten bewegen sich
hinter einem duschvorhang
Das ist natürlich mehr als reine Naturbeobachtung: zwischen Wörtern und Zeilen tun sich Räume auf, die sich erst beim wiederholten Lesen entdecken lassen. Ein Qualitätsmerkmal von Perrons Lyrik, die im letzten Kapitel noch an poetischer und aphoristischer Schärfe dazugewinnt: „die harten zeiten abschaben / die güte formen“.
Abschließend ein Wort zur Übersetzung von Reinhard Lechner: Diese bleibt stets nah am Original, achtet auf Zeilenbruch und darauf, dass „Pointen“ bzw. Aussagen den ihnen gebührenden Platz im Vers finden. Freiheiten nimmt sie sich keine heraus, sie steht ganz im Dienst von Perrons Lyrik. Einzig bei der einen oder anderen Wortwahl hätte ich mich vielleicht anders entschieden.
Jedenfalls ein Gedichtband, dem Aufmerksamkeit gebührt, und ein Autor, der zu entdecken ist.
Christoph Janacs (2024)