Rezension

llse Tielsch

Die Früchte der Tränen

Roman

Edition Atelier Wien, 2020, 454 Seiten

ISBN 978-3-99065-014-1

 

Die Autorin, Doyenne der österreichischen Gegenwartsliteratur, führt uns im dritten Band ihrer Trilogie – Band 1: ‚Die Ahnenpyramide‘, Band 2: ‚Heimatsuchen‘, alle drei bereits in den Jahren 1980 bis 1988 erschienen – durch das leidvolle Dasein der nach 1945 aus ihren verschiedenen Heimaten vertriebenen Deutschen, die nach anfänglich heftigem Miss­­t­rau­­en und Ablehnung durch die bodenständige Bevölkerung seitens der offiziellen Stellen sehr unterschiedliche Hilfen und Unterstützungen erfahren haben, je nachdem, ob sie in Deutschland oder in Österreich gestrandet sind.

Das umfangreiche Werk beinhaltet drei wesentliche Handlungsstränge. Da ist einmal die Geschichte des jungen Paares Anna und Bernhard, ihrer vertriebenen Familie und ihrer Schulfreunde und -freundinnen aus Mähren, die aus dem buchstäblichen ‚Nichts‘ begonnen haben, sich in der Zeit des Aufbruchs, des Wiederaufbaus und der Impro­visation der frühen Fünfzigerjahre eine Existenz aufzu­bauen, wobei sie einen unvorstellbar steinigen Weg von staaten- und somit rechtlosen Vertriebenen zu Österreichischen Staatsbürgern mit Arbeitsplatz und Wohnung zurückzulegen haben. Fleiß und Entbehrungen, Ideenreichtum und nicht zuletzt der feste Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft, in der jeder auf den anderen angewiesen ist, machen es doch möglich.

Eingebettet ist diese Handlung in die begleitende, sehr ausführliche Beschreibung der weltbewegenden Ereignisse und der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politi­schen Rahmen­bedingungen in Deutschland und in Österreich, wobei die Unterschiede in der Unterstützungspolitik der beiden Länder mehr als deutlich hervorgehoben werden. In Klammer macht die Autorin aufmerksam, wie dies oder jenes aus ‚heutiger‘ Sicht zu sehen ist, wobei unter ‚heute‘ die Zeit der ersten Auflage des Buches, also die 80er Jahre, zu verstehen ist.

Der dritte Handlungsstrang könnte mit ‚Judith‘ überschrieben werden, einer engen Freundin von Anna aus der gemeinsamen Schulzeit in Mähren, die ‚immer schon‘ hübscher, klüger, eleganter, erfolgreicher als die anderen in der Klasse gewesen ist, aber auch egozentrischer und letztlich undurchschaubarer. Das Buch beginn mit ihrem Begräbnis und endet auch mit ihm. Dazwischen werden blitzlichtartig ihre punktuellen Bege­gnungen mit Anna und ihr völlig anderer Lebensweg beleuchtet, in dessen Verlauf ein tragischer Unfall das Freundschaftsband mit ihr zerreißt, wodurch Judith ihren Halt, der die einstigen Schul­kolleginnen auch in der jetzigen, schweren Zeit zusammenge­schweißt hat, verliert. Dass Anna einen solchen in entscheidender Situa­tion hätte geben können, es aber nicht getan hat, belastet sie jahrelang.

Diese drei Stränge sind mitunter weit ausholend ineinander verflochten, einer geht in den anderen über, sie überkreuzen sich, auch zeitlich, was das Lesen und Verstehen ein wenig erschwert. Abgesehen von nur zwei Ausnahmen gibt es für die zahlreichen Familienmitglieder und Verwandten, für Freundinnen und Freunde nur Vornamen, was ein wenig verwirrend ist, sich später aber als gar nicht so wichtig herausstellt, da eher die beschwerlichen Umstände im Mittelpunkt stehen als die betroffenen Personen.   

Literarisch ist alles vorhanden, was ein Buch wertvoll, lesenswert und spannend macht. Grundlegende Gedanken über ‚Heimat‘ – was ist Heimat, wo ist Heimat, wie ist Heimat –, über ‚Verlust‘, ‚Heimaterde‘ ‚Zurücklassen‘ und der feste Glaube, haupt­sächlich bei den ‚Alten‘, an eine Rückkehr durchziehen das Werk. Erinnerungen an Verwandte, Großeltern, an die Zeit, als ‚wir alle Österreicher‘ waren, an Landschaften, Dörfer und Personen werden wach­gerufen, wenn man bei offiziellen Versammlungen oder im privaten Kreis beisammensitzt. Besonders berührend sind jene Passagen, wenn ‚Anna von heute‘ sich ‚Anna von damals‘ nähert und mit ihr gewissermaßen Zwiesprache hält. Es kommen dabei die innersten Wünsche, Ängste und viel Verzweiflung zutage, aber auch Hoffnungen und Zuversicht ungeachtet der Schwie­rigkeiten des Alltags.

Das Buch endet im Jahr des Ungarnaufstandes, als eine neue Flüchtlingswelle über Österreich hereinbricht. Wiederum fliehen Menschen vor kriegerischen Ereignissen, wie seinerzeit, als man aus Ostpreußen, Polen und der Tschechoslowakei vor dem russischen Militär geflüchtet ist oder aus der angestammten Heimat vertrieben wurde. Auf Seite 436 ist der Titel zu diesem grandiosen Buch zu finden. Angesichts des neuerlichen Elends lässt die Autorin Annas Mutter wie folgt resignieren: ‚Ein Regen von Tränen ist auf die Erde gefallen, aber er hat keine Wirkung gehabt. Früchte, wie sie hätten wachsen müssen, solche Früchte sehe ich nicht.“

Ein Buch wie ein grollender Donner, wenn man die Flüchtlingssituation des Jahres 2020 genauer betrachtet. Ein Buch, das niemanden kaltlassen kann und zu dessen tieferen Verständnis die Inhaltskenntnis der zwei eingangs erwähnten Vorgänger­bände hilfreich sein könnte. Ein großes Buch einer großen Schriftstellerin.

 

Rezensent: Michael Stradal

Zurück