Rezension
Doris Kloimstein & Ursula Fischer & Renate Minarz (Hg.)
Die Tochter des Jaïrus
Eine Art Stundenbruch.
Verlag am Rande 2023, 100 Seiten
ISBN 978-3-903190-60-3
„Talita kum – Mädchen, steh auf!“ Mit diesen Worten, die der Evangelist Markus in der aramäischen Originalsprache überliefert hat, soll Jesus von Nazaret eine seiner insgesamt drei Totenerweckungen bewirkt haben. Gesprochen wurden sie zur zwölfjährigen Tochter des Synagogenvorstehers Jaïrus, der sich zuvor hilfesuchend an den galiläischen Wunderrabbi gewandt hatte, da sein geliebtes Kind im Sterben lag. Auf dem Weg zum Krankenlager, das Jesus aufzusuchen bereit war, ereignet sich zunächst ein anderes Wunder. Er wird, umdrängt von einer großen Menschenmenge, am Saum seines Gewandes berührt, spürt, dass eine Kraft von ihm ausströmt und stellt kurz darauf die Heilung einer Frau fest, die zuvor seit zwölf Jahren – man beachte die Parallele zum Alter des sterbenden Mädchens – an Blutfluss litt. „Dein Glaube hat dich gerettet“ – so kommentiert Jesus das Heilungsgeschehen, das unweigerlich, ohne sein bewusstes Zutun, stattgefunden hat. Bedingt durch dieses Ereignis kommt er zu spät in das Haus des Jaïrus, wo der Tod der Tochter bereits lautstark betrauert wird. „Sie schläft nur“, sagt Jesus zur Verwunderung der dort Versammelten und erweckt das „entschlafene“ Kind zu neuem Leben. Soweit die Begebenheiten, über die alle drei synoptischen Evangelien – Markus, Matthäus und Lukas – in Variationen berichten.
Im Jahr 2022 fanden fünf Autorinnen und fünf bildende Künstlerinnen im niederösterreichischen Stift Seitenstetten zusammen, um in einen schöpferischen Dialog mit dieser biblischen Erzählung zu treten. Die gesammelten Ergebnisse präsentiert das vorliegende Buch vom Verlag am Rande. Als Kuratorinnen und Herausgeberinnen der Texte und Bilder fungierten Doris Kloimstein, Ursula Fischer und Renate Minarz.
Die Publikation will sich als „eine Art Stundenbuch“ verstanden wissen, wenn sie auch (fast) keine Gebete enthält, sondern Kurzprosa und Lyrik – durchaus geeignet, zum Denken anzuregen und in die Tiefe zu führen. Nicht illustrativ, sondern gänzlich eigenständig und künstlerisch auf Augenhöhe mit den Texten tragen die Kunstwerke von Anneke Hodel-Onstein, Renate Minarz, Elena Romenkova, Selina Saranova und Loretta Stats zum Gesamtbild bei.
Der erste Text des Buches ist Ingrid Schramms Erzählung „Die wundersame Heilung der Tochter des Jaïrus“, der gleichsam programmatisch folgende Sätze vorangestellt sind: „Das Leben ist eine Pilgerreise. Wir versuchen alle den Ort des Heils zu erreichen.“ Schramms Text hält sich an das Grundgerüst der biblischen Erzählung und schmückt es in phantasievoller Weise aus, wobei die Autorin den Biographien und Beziehungen der handelnden Personen nachspürt und so Ursachen des Leidens erfahrbar macht. Eine feministische Perspektive wird u. a. deutlich, wenn es gegen Ende zu einer Wette zwischen der geheimnisvoll-diabolischen Matriarchin Setha und dem Vatergott der Bibel kommt. (Anklänge an Ijob und Faust sind hier wohl beabsichtigt.) Zuletzt triumphiert die universale Liebe Gottes, die allen Menschen gleichermaßen gilt.
In Barbara Zelgers liebenswürdigem Text „Das Frühchen vom Bergbauernhof“ geht es um die 12-jährige Johanna, die ihr zu früh geborenes Schwesterchen vom entlegenen Hof der Eltern in den Ort bringen soll, um es vor dem nahen Tod noch rechtzeitig taufen zu lassen. Auf dem Weg zum Pfarrer geschieht es, dass der Arzt des Dorfes gewissermaßen in die Rolle Jesu schlüpft und dem sterbenden Kind durch ein „Wundermittel“ die nötige Kraft zum Weiterleben verleiht: eine „Auferweckung“ für beide Schwestern.
Doris Kloimstein versetzt uns in „Nur ein Mädchen“ wieder in das Setting der biblischen Erzählung und widmet sich der Person des frommen Jaïrus, der mit dem Schicksal hadert, keinen männlichen Nachkommen zu haben und dies als Strafe Gottes deutet. Das Bangen um die sterbenskranke Tochter und ihre Rettung durch Jesus läutern ihn und befreien ihn von der religiös-patriarchalen Zwangsvorstellung.
Der vielleicht erstaunlichste Text des Bandes, „Dein Kind war“, stammt von Katharina Tiwald und müsste aufgrund seiner Komplexität wohl gesondert rezensiert werden. Die Protagonisten dieses Prosa-Beitrags sind der stoische Philosoph Seneca und die Römerin Marcia, die er einst als trauernde Mutter eines früh verstorbenen Sohnes durch seine belehrende „Trostschrift“ gegen sich aufbrachte. Dem Apostel Paulus fällt am Ende die Aufgabe zu, Marcia mit dem kurz zuvor in den Suizid getriebenen Seneca zu versöhnen, indem er dessen Worte zitiert: „Gott ist dir nahe, ist mit dir, ist in dir.“
Ein lyrischer Text von Cornelia A. M. Schäfer rundet das Buch ab. „Was wurde aus Jaïrus’ Tochter“ ist ein leidenschaftlicher Hymnus, der zentrale Motive der biblischen Doppelperikope aufgreift und vielfach variiert. Die ersten Verse des Langgedichtes geben dabei bereits die Richtung an: „In den Tiefen / Hängen und weben sich / Die Fäden zweier Schicksale / die das Schicksal DER / FRAU in sich einen“.
Insgesamt ist das zum Buch gereifte Kreativprojekt Die Tochter des Jaïrus als der gelungene Versuch zu werten, schreibend und malend die Idee des mittelalterlichen Skriptoriums neu zu beleben. Einer der berührendsten Texte des Neuen Testaments konnte so aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet, inhaltlich durchdrungen und wirkungsvoll ins Heute übertragen werden.
Johannes Wais (2024)