Rezension
Alexander Peer
Die Unvollendeten
Berühmte Werke, die keinen Abschluss fanden. Bücher, Bauten, Symphonien, Filme.
Zu Klampen! Verlag 2023, 195 Seiten
ISBN 978-3-86674-997-9
Es hat etwas Versöhnliches, Die Unvollendeten von Clemens Ottawa zu lesen. Der milde Glanz der Weltgeschichte legt sich während der Lektüre auf das eigene Dilemma. Wer wollte sich nicht in dieses Team einreihen, Teil jener Frau- und Mannschaft werden, die auf Projekte blickt, die unabgeschlossen bleiben? Fast fühlt man sich ermächtigt, in der Unabgeschlossenheit eine höhere Würde zu vermuten. Ja, dass eine mythische Aura das Fragment einhüllt.
Etwa wenn man an Komponisten und ihre neunten Symphonien denkt. Unheimlich ist es, wie viele Größen gerade an dieser Zahl gescheitert sind. Bei Anton Bruckner mag man rätseln, wie er überhaupt acht schreiben konnte, ist er doch in ein Geflecht aus Neurosen verstrickt und gepeinigt von Ängsten sonder Zahl. Und wenn einer nicht an seiner neunten scheitert wie Gustav Mahler, dann ist eben bei der zehnten Schluss. Dieser ebenfalls von Furcht gedrückte Meister der Musik soll als Zehnjähriger auf die Frage, was er einmal werden wolle, geantwortet haben: „Märtyrer!“
Das unfertige Bild als Perfektion
Dieses Buch navigiert pointiert und faktenreich durch die kreativen Disziplinen und versammelt eine Vielzahl an Märtyrern ihrer Zunft. Ob Musik, Kunst, Literatur, Architektur oder Film – in allen Bereichen gibt es Faszinierendes, das kein Ende im angestrebten Sinn gefunden hat; dadurch jedoch ein vordergründig trauriges. Selten ist der Tod allein zur Verantwortung zu ziehen. Natürlich hängen viele Abbrüche auch mit Krankheit und Sterben zusammen, meist sorgen jedoch widrige Umstände dafür, dass wirklich Schluss ist, bevor sich einer findet.
Wenn der Tod tatsächlich als Saboteur auftritt, dann meist effektvoll. Etwa anlässlich des Porträts von Franklin D. Roosevelt, gemalt von Elizabeth Shoumatoff. Das Malheur fängt vielleicht schon damit an, dass nicht seine Frau Eleanor Roosevelt den Auftrag gibt, sondern seine Geliebte. Es sind vier Sitzungen vereinbart. Schon bei der ersten Sitzung überzeugt Shoumatoff mit ihrer Gabe, durch Aquarellfarben allein kräftige Gesichter und Körper aus dem Weiß hervortreten zu lassen. Bei der zweiten Sitzung allerdings schlägt das Schicksal zu – buchstäblich, ein Schlaganfall führt zu Roosevelts Tod. Shoumatoff wird in der Folge von Reportern heimgesucht, die ihr beharrlich das unvollendete Gemälde abluchsen möchten. Sie widersetzt sich den lukrativen Angeboten und spendet es der Little White House Foundation. Obwohl eine von ihr selbst angefertigte Kopie existiert, auf der das Bild vollständig ausgeführt ist, bleibt das Original ein Fragment. Doch gerade dadurch berührt das Antlitz des 32. Präsidenten der USA, sein Gesicht fast fotografisch detailliert in gefasstem Ernst und der Hintergrund grau und schematisch – ein Totenbildnis von ungewöhnlicher Ausdruckskraft.
Säulen stehen herum
Als skurriles Wahrzeichen kann man das National Monument in Edinburgh bezeichnen. Als Ehrung für die gefallenen Soldaten im Krieg gegen Napoleon war es gedacht. Realisiert wurde schließlich mit einiger Verspätung nach langem Streit über die Formgebung ein Teil-Pantheon ganz im klassizistischen Stil. Dieses wurde initiiert vom umtriebigen Lord Elgin. Noch heute ist die Säulenreihe ein beliebter Treffpunkt. Elgin musste dafür den Architekten Elliot ausboten. Der Lord muss ein rücksichtsloser Mensch gewesen sein, schon zuvor hat er sich einen soliden Ruf als Räuber antiker Artefakte aus der Levante erarbeitet. Als der Bau 1829 aufgrund Geldmangels abrupt abgebrochen wird, kümmert das die Bevölkerung kaum. Zu lange hat man die Debatten um dieses Symbol mitverfolgen müssen. Obwohl in den knapp 200 Jahren danach mehrfach das nötige Kapital für die Fertigstellung vorhanden gewesen wäre, wollte man es gar nicht mehr vollenden. Mit seinen vielen zweifelhaften Kosenamen wie zum Beispiel „the Pride and Poverty of Scotland“ hat es seine eigene tragikomische Strahlkraft als Tempel-Fragment erlangt.
Wer ganzheitlich denkt, liebt das Unvollendete
Anders ist es bei den Lebensansichten des Katers Murr. Diesem schonungslosen Bericht des Meisters der schwarzen Romantik kommen sowohl Protagonist als auch Autor abhanden. E.T.A. Hoffmanns spitze Feder schuf Karikaturen wie Satiren, Opfer seiner Attacken sind meist die bürgerliche und aristokratische Welt. Doch als sein Lebenskater das Zeitliche segnet, versagen beim ohnedies kränklichen Hoffmann mehr und mehr die Kräfte. Dies gelingt umso leichter, da sich der Multi-Begabte kontinuierlich durch Arbeitsüberlastung und übermäßigen Alkoholgenuss ruiniert. Zwei Teile der Trilogie sind schon veröffentlicht, doch der dritte bleibt ein Torso. Die Literaturgeschichte ist – wie wir alle wissen – eine Geschichte voller Fragmente.
Clemens Ottawa hat jeweils vier Geschichten zu jeder Rubrik zusammengetragen. Diese zeigen das Exemplarische und bieten zugleich eine anregende Varietät. In der Literatur flankiert Hoffmann das leuchtende Dreigestirn Büchner-Kafka-Musil. Konzise sind hier die jeweiligen Textverhinderungen erläutert, gleichzeitig findet ein biografischer Abriss Platz. Der Charakter der Miniatur ist der Lichtkegel und der ist immer gut gesetzt.
Mit dem abschließenden Kapitel über den Film geht es unter anderem nach Hollywood. Schmerzhaft stellt man fest, dass sich selbst ins Werk des bereits in jungen Jahren so rastlosen und konsequent seine Projekte verfolgenden Orson Welles Fragmente einreihen. Aber – und das ist das Versöhnliche an diesen Beispielen – keiner denkt je ans Aufhören, sondern macht weiter … bis es eben wirklich nicht mehr geht.
Alexander Peer (2024)