Rezension
Peter Paul Wiplinger
Einschnitte
Gedichte 2021-2022
Edition PEN im Löcker Verlag, Wien 2022, 140 Seiten
ISBN 978-3-990981450
Die Tage, die Nächte, die Erinnerungen, der Zorn, die Ängste und die Bemühungen, sie nicht überhand nehmen zu lassen, des Lebens Wirklichkeit – alles wird zu Sprache, zu Gedichten. Peter Paul Wiplinger schreibt das Leben auf, ohne Metaphern, wie er selbst sagt, ohne Abstraktionen, ohne poetisch-ästhetische Verzierungen, „ungeschönt“. Es ist, wie es ist, lesen wir. Und so, wie es ist, schreibt er es nieder. Die Wahrheit ist ein Thema für Philosophen. Ihm geht es um die Wirklichkeit.
Wiplinger ist immer ein politischer Mensch gewesen. Alle, die ihn kennen, hätten sich sehr gewundert, wenn er, der leidenschaftlich Freiheitsliebende, sich nicht zu den gegenwärtigen Kriegsereignissen in der Ukraine geäußert hätte. Er tut es im ersten Teil des Bandes Schlag auf Schlag, Seite für Seite und mit geballtem Zorn. Dieser gilt nicht nur den „Führern“: nein, alle die gehorsam morden, / die skrupellos den Tod bringen, / sie sind die Kriegsverbrecher, / die Zerstörer jeder Zivilisation. Und dann: nachher / wird man wieder sagen / wir haben nicht gewusst / dass das so schlimm war / dass alles zerbombt wurde / dass so viele Menschen / ihr Zuhause verloren.
Erinnerungen aus der fernen Kindheit tauchen auf. Auch damals heulten die Sirenen, und die älteren Brüder waren im Krieg, im Westen der eine, im Osten der andere. Über frühe Verluste schreibt er, und wie oft in Wiplingers Lyrik klingen Worte der Verbundenheit mit seiner Mühlviertler Heimat an. Dann kommt das ganz Eigene, Persönliche, Kreatürliche zur Sprache. Die Wirklichkeit, der Alltag, die Schlaflosigkeit eines schwerkranken Mannes, der nichts verdrängt, der nicht anders kann als hineinhören und hineinschauen in diesen sich verkürzenden Zeitraum. immer wieder tief in sich / den abschied spüren / immer wieder aber auch / der hoffnung fernes licht.
Ob es in diesen Gedichten um den Krieg und seinen Verursacher geht oder um den persönlichen Kampf der eigenen Existenz und den immer wieder möglichen Gewinn eines Glücksmoments, eines Augenblicks der reinen Freude, und sei er auch in der Erinnerung angesiedelt – Wiplingers Gedichte sind authentische, aus der unmittelbaren Gegenwart geschöpfte Verse eines Menschen, der sagt, was er sieht und hört und erleidet.
Elisabeth Schawerda
Ein neues Buch, ein neuer Wiplinger: »Einschnitte«. In die neueste Weltgeschichte, in den Körper (bei einer Operation), ins Leben. Der 1939 geborene Autor, der uns seine schwere Krebserkrankung keineswegs vorenthält, sondern sogar in der Lyrik offen darüber spricht und dazu Stellung bezieht (sofern man das kann), schreibt: »jetzt/an meinem lebensende/gehe ich in meiner wohnung/auf und ab und denke mir dabei/eigentlich sollte mir alles egal sein/(...)« (S. 92). Ist es aber nicht. Wiplinger ist kein Autor, der einfach wegsähe oder gar schwiege, nein, er spricht in seinen Gedichten zu uns und hält sich dabei kein Blatt vor den Mund.
Er bezeichnet diese Gedichtsammlung, die fünfundfünfzigste Buchpublikation, als sein »vorletztes« Werk, denn er ist sich, wie er an vielen Stellen (siehe oben) anmerkt, bewusst, dass er sich in der finalen Phase seines Lebens befindet. Und der »letzte« Gedichtband wird seinem Mühlviertler Dialekt gewidmet sein, verriet er mir. Vielleicht, so hoffe ich, irrt Wiplinger ja, und es wird nach dem letzten noch ein weiteres letztes Buch geben, und dann womöglich noch ein letztes … Niemand von uns ist Prophet, und vieles ist möglich, auch wenn sich die Mediziner pessimistisch äußern: »man hat dir nicht viel hoffnung gemacht/bei der besprechung letztes mal im akh« (S. 91). Und wir begegnen einem tiefen Optimismus, wenn er sagt: »(...)/Ja, sage ich, heute wird/wieder ein herrlicher Tag.//Und ich lächle zurück/und nehme mir fest vor,//heute nicht an den Krebs/zu denken und nur zu leben.« (S. 80). Eine gute, womöglich die einzige gute Sichtweise.
Das erste Drittel des Buches handelt jedoch von einem ganz anderen Krebsgeschwür: »blumen am fensterbrett/kaffeeduft aus der küche//aber nicht weit von hier/tobt seit wochen ein krieg//wird brutal alles zerstört/was man zivilisation nennt//(...)« (S. 25). Putins Krieg beschäftigt Wiplinger (wie viele von uns) so sehr, dass er ihm und dem von ihm losgetretenen Wahnsinn viele Seiten widmet. Bestürzung und Ratlosigkeit sprechen aus den Fragen, »was haben sie sich denn/dabei gedacht zar putin/als sie den befehl gaben/zu ihrer militäroperation/die man nicht als krieg/bezeichnen darf« (S. 19), und genau beobachtet werden die ersten über die Medien gemeldeten Kriegsverbrechen (Butscha) und die Reaktion des russländischen Diktators darauf: »jene die massakrierten/und massakrieren ließen/werden jetzt ausgezeichnet/vom kgb-kreml-diktator putin//mit irgendwelchen absurden titeln/als helden für volk und vaterland/als helden der russischen nation/als helden der kultur und zivilisation//die sie mit dem krieg zerstörten/indem sie zivilisten massakrierten/mädchen und frauen vergewaltigten/mütter und kinder wahllos töteten//(...)« (S. 22).
Was, dachte ich im ersten Moment, bringt einen alternden Autor, der mit seiner eigenen Erkrankung ringt, dazu, in seinen »vorletzten« Gedichten die Verbrechen der russländischen Militärmaschinerie anzuprangern? Aber es kotzt ihn eben an, dass der Ewiggestrige im Kreml ein friedliches Land überfällt, Millionen Existenzen vernichtet und dann noch die Frechheit hat zu behaupten, die andern wären die Faschisten. Wiplinger sieht die zahlreichen Parallelen zu den Verbrechen von Hitlers Naziregime, die so offensichtlich sind, dass es einfach nur wehtut. Es kotzt ihn an, dass er so etwas nach den Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts miterleben muss und sich nicht um beileibe Wichtigeres kümmern kann, wie er es eigentlich vorgehabt hätte.
Die Erinnerungen an die Kindheit, die vom Bombenterror und danach dem allmählichen Begreifen der Verbrechen des Naziregimes bestimmt war, spielen auch in diesem Lyrikband eine Rolle. Sie kehren immer wieder, nun zusätzlich geweckt durch die Ereignisse in der Ukraine, und sie lassen den Autor sogar nach der Rolle seiner inzwischen verstorbenen Brüder fragen, die für Hitler in der Normandie und in Russland kämpfen mussten. Diese Fragen müssen unbeantwortet bleiben: »(...) all mein fragen bleibt antwortlos/es ist auch meine schuld euch damals/nicht genau danach gefragt zu haben« (S. 35). Damit zeigt Wiplinger Mechanismen auf, die sich wieder und wieder, bald in Russland und in der Ukraine, fatal wiederholen werden.
Die »Einschnitte« ins Leben handeln oft vom Tod und eben auch vom eigenen Tod, der möglicherweise nicht mehr fern ist. Marcel Reich-Ranicki sagte einmal, es gäbe überhaupt nur drei gültige Themen für die Literatur, und eines davon wäre der Tod. So stehen Wiplingers Gedichte – ungewollt – in einer langen Tradition. Die meisten Texte sind in Strophen unterteilt und verwenden freie Rhythmen, die allerdings stets flüssig zu lesen sind, auch wenn sie einem in ihrer wuchtigen Aussage (oder: Anklage) schon mal den Atem abschnüren. Peter Paul Wiplinger bevorzugt die durchgehende Kleinschreibung, an die ich mich schon so gewöhnt habe, dass es direkt auffällt, wenn ein Gedicht, wie etwa »Herbstabend in Rom« (S. 67), plötzlich die normale Großschreibung verwendet.
Reflexionen zur jüngsten Reise nach Italien stehen neben jenen zu einer lebenslangen Liebesbeziehung und deren Alltag, wozu Meinungsverschiedenheiten und Auflösungserscheinungen ebenso gehören wie Geborgenheit und wertvolle Erinnerungen. Ab und zu blitzt neben der großen Ehrlichkeit auch Humor durch: »(...) ich verspotte so also einen/unantastbaren gedenkspruch/der nazis über das heldentum//und ich bereue dabei/mein verspotten nicht/kindlich trotzig wie ich bin« (S. 37), und dann: »ich bin immer noch am leben/den tod den hab ich ausgelacht« (S. 109). Lachen wir mit ihm, mit Peter Paul Wiplinger, und spüren wir der Tiefe dieser beiden Verse eines Morgengedichtes nach: »Der Zeit ihre Freiheit geben./Und ihren endlosen Raum.« (S. 126).
Klaus Ebner