Rezension
Rosemarie Schulak
Erzählungen
Delta X-Verlag, Wien 2022, 172 Seiten
ISBN 978-3-903229-41-9
Der Rezensent könnte es sich einfach machen und schreiben: Bitte lesen Sie das kurze einfühlsame Vorwort und die letzte der 21 Geschichten, und Sie werden in wohlabgewogenen Worten einerseits und in der feinsinnigen Darstellung dessen, was ein Bild bewirkt, schnell ersehen, was den Kern von Frau Schulaks Texten ausmacht: die verständnisvolle Sicht auf die Menschen in all der Alltäglichkeit der Realität, die das Bittere nicht ausspart aber zu wandeln vollbringt bis hin zu Frieden und Freude statt sprachloser Einsamkeit (7), sowie die Suche, ja das Finden des tieferen Wesens des Geschauten durch eine stufenweis intensivierte Betrachtung, denn nicht nur das Messbare ist da gemeint, sondern genauso das Ahnbare, die innere Kraft (160).
Es gibt vielleicht einen zweiten Weg der Auswahl aus der Fülle (trotz kleiner Zahl): Vier Erzählungen werden Grafiken - von Bettina Mertz 2021 - zugeordnet, die wohl, weil naturgemäss, eine besondere Intensivierung hervorrufen sollen. Es sind dies ein nächtlicher Vollmond durch Föhrengeäst (39); eine Schwertlilie (75); die tektonische Kappe eines Schornsteins (137); sowie die Handschale, auf deren Fingern ein Schmetterling landet (100), letzteres auch auf dem Cover verwendet. In den Geschichten geht es neben der Handlung um das Nachdenken über den tieferen Gehalt des Sichtbaren: «Die Föhren knien nieder vor dem Mond»; «Die Schwertlilien am Zaun» bergen schwere Erinnerungen; die Kamine verbinden «Arachne, Rauch und Tempelstufen»; die «Schmetterlinge» künden von Zuneigung und zugleich […] Distanz sind nur zum Schein ein Widerspruch. Als Gemeinsamkeit schlägt sich viermal der Blick aus der Nähe in die Weite und zurück nieder und dreimal bewegt Natur - verstanden als das kerngemäss Natürliche - die Gedankengänge.
Das letztere könnte ein dritter Einstieg sein: Die Natur ist immer wieder Anlass, wirkendes Bild, Motor, Mitspieler und damit mitbestimmend für das, was geschehen mag. Das funktioniert nur, wenn sie als echtes Gegenüber begriffen wird, wofür wiederum eine bessere Kenntnis, genauer: Erkenntnis des Das gibt die Natur uns so vor (117) notwendig ist, um die Kraft - Das ist es […], was der Himmel uns schenkt: Schönheit! - zu begreifen bis hin zum Punkt Das Wahre ist alterslos, es bleibt unsterblich (104).
Ein viertes Modell liegt in den vielen Bezügen zur Kultur, namentlich in den Anspielungen auf antike Sagen und Mythen. Oft handelt es sich um (wie beim Kater Hannibal manchmal leicht zwinkernde) Hinweise auf bekannte Namen, die, verstreut, indes jeweils eine bestimmte gedankliche Richtung auslösen. Möglich aber, auch, der unmittelbare Einstieg wie in dem dem Rezensenten besonders eindrücklichen «Blätterrauschen» über, genauer in den letzten Stunden von Philemon und Baukis (117-120), das die den Kreislauf in Gang setzende Zeit - wieder und wieder - deutet. Und Heraklit verweist nicht nur im vorangestellten Motto auf Der Seele Grenzen, sondern ist auch der Mentor für die Verbindung heutiger Realitäten zur Tradition, wobei Frau Schulak dezidiert formuliert: Gegenseitige Ergänzung verschiedener Standpunkte wird so zu göttlicher Harmonie (136).
Dieser Satz wäre als Kernsatz ein guter Schlusspunkt, doch er enthält nicht genügend die Art und Weise wie uns die Autorin dorthin führt. Wir sollten uns unbedingt von ihr leiten lassen. Die Sprache erscheint zunächst einfach zu sein und deshalb fast ein wenig distanziert; sie ist aber zugleich sehr literarisch, fast poetisch und gerade darin voller Empathie. Ein besonderes Kunststück sind die vielen Beschreibungen, die eben nicht nur aufnotieren, sondern auf bewundernswert genauen Beobachtungen beruhen, die in einer wunderschönen Abfolge zielgerichtet eingesetzt werden. In die Erzählgänge werden Assoziationen, Erinnerungen, Gedankengänge nicht eingestreut, sondern mit dem Geschehen in weiterführender Weise verflochten; aus Kurzweil entsteht Besinnung daraus das sich ein klein wenig Zeit nehmen (54), oder das Traumgesicht bringt eine zweifache Wirklichkeit ein (67). Handkehrum ist praktisch jede Geschichte früher oder später mit ganz konkret benannten Figuren verbunden, eine - meist eine Frau -, zwei, selten mehr und daher stark personalisiert in der Blickweise. Dabei gilt stets zu beachten, wie diese Personen regel(ge)recht, buchstäblich eingeführt werden, als der notwendig aufnehmende Teil des Ganzen und in literarisch oft vollendeter Weise. Grossartig etwa, wenn auf die Drehgeräusche das Wägelchen folgt, danach der Blick auf die ziehenden Rinder zurück auf die Lenkerin fällt, die dann das erzählende Ich ist (61).
An diese viel mehr als nur methodischen Hinweise schliesse ich mit dem - sicherlich nicht von ungefähr - letzten Satz der letzten Geschichte, der neuerlich ein Motto abgeben könnte: Sich ein Bild vom Menschen zu machen endet doch immer mit einem ganz neuen Blick auf sich selbst (170). Von diesem zutiefst humanen Vorhaben sind alle Seiten des Buchs erfüllt – aber beileibe nicht nur deshalb (wie wir sahen) kann das Buch ganz überzeugend zur Lektüre ja zur Immer-Wieder-Lektüre sehr empfohlen werden.
Martin Stankowski