Rezension
Beatrix Kramlovsky
Fanny oder Das weiße Land
hanserblau, München, 2020, 301 Seiten
ISBN 978-3-446-26797-8
Sechs k.u.k. Offiziere finden sich am Ende des Ersten Weltkrieges in einem Gefangenenlager in Ostsibirien zusammen und beschließen, sich in ihre Heimat durchzuschlagen. Angetrieben werden sie von Karl, den es zu seiner geliebten Fanny und seinem kleinen Sohn Max nach Wien zieht. Drei Jahre lang werden sie russische Wachmannschaften und sonstige Behörden umgehen und überlisten und tausende Kilometer unwegsamen Geländes durchqueren müssen – Steppen, Sümpfe, Schneefelder und Gebirgszüge. Geld haben sie wenig, ihre Ausrüstung ist schlecht. Aber sie haben Schläue, Gemeinschaftssinn und einen Anführer mit hervorragendem Zeichentalent, denn Karl hat sich als Autodidakt eine gute Ausbildung als Maler erarbeitet. Ein lebensechtes Porträt eines Bewachers oder eines seiner Angehörigen kann der ganzen Gruppe das Leben retten. Unter Karls Aufmunterung stellen sich auch bei seinen Kameraden kunsthandwerkliche Fähigkeiten heraus. Kleine holzgeschnitzte Menschen- und Tierfiguren werden sich unterwegs als gut absetzbare Tauschwaren erweisen. So kommen sie nach dreijähriger Wanderung in ihre Heimat zurück.
Die Erzählung fesselt den Leser vom Anfang bis zum Ende. Das kann sie, weil sie auf den Aufzeichnungen eines in Russland gefangenen k.u.k. Offiziers beruht. An ihnen wurde nur so viel geändert, wie es die geschichtliche Wahrheit verlangte. Denn vom Gefangenenlager aus konnte der ursprüngliche Schreiber die politische Lage nicht überschauen. Außerdem hat die Verfasserin des endgültigen Berichtes dem Leser die handelnden Personen als lebendige Charaktere vorgestellt und dazu verschiedene Einzelheiten abgeschliffen oder ergänzt. Freund und ehemaliger Feind werden verständnisvoll und einfühlsam dargestellt, die Gräuel des Todes und der Gefangenschaft wirklichkeitsnah, aber ohne Bitterkeit. Insgesamt ist die Erzählung in einem zwanglosen wienerischen Hochdeutsch gehalten, das sich offenbar an die Sprache der ursprünglichen Erzählung anlehnt. Der Vater spricht nicht zu „seinem Jungen“, sondern zu „seinem Bub“ – öha! Sollte es nicht „zu seinem Buben“ heißen (auf S.83)? Aber seien wir nachsichtig – ich jedenfalls bitte um Nachsicht für meine Schulmeisterei. Lassen Sie sich durch sie nicht davon abhalten, dieses Buch zu lesen!
Rezensent: Georg Potyka