Rezension
Klaus Ebner
Fünfzig
Verlag fabrik.transit 2024, 408 Seiten
ISBN 978-3-90326-764-0
Ausgerechnet an seinem fünfzigsten Geburtstag (für ihn alles andere als ein Freudentag, denn was ist an der Tatsache, dass man fünfzig wird, schon erfreulich!) ereilen den Ich-Erzähler gleich zwei Unglücksfälle. Erstens hat seine liebe Frau Angritt eine Geburtstagsparty in einem Gasthaus für ihn organisiert. Und zweitens bekommt er wenige Stunden vor dem unliebsamen „Event“ schrecklichen Durchfall. Der sich allerdings als ausgesprochener Glücksfall erweist, denn der ausgedehnte Aufenthalt auf dem stillen Örtchen verschafft dem Protagonisten die Möglichkeit, in sich zu gehen. Hier findet er sein Leben vor, sein ganzes bisheriges Leben. Laut und deutlich spricht er zu sich selbst, stundenlang, an diesem stillen häuslichen Ort, und der geneigte Leser wird gleichsam Ohrenzeuge. Wobei es bei weitem nicht nur um das an Ereignissen nicht gerade arme Leben geht, sondern vor allem um die Gedanken, die der mit sich selbst Sprechende sich macht, darüber, nebenher oder einfach nur apropos und assoziativ. Bei der Verschriftlichung der mühelos zu einer äußerst unterhaltsamen Geschichte zusammenfließenden Handlungen, Gedanken, Kommentare und Kommentare zu den Kommentaren bedient sich der Erzähler ausgiebig diverser Hilfsmittel wie Klammern, Kursivdruck und Anführungszeichen und unterteilt den gar nicht chronologischen Klo-nolog in genau 50 Kapitel.
Der Erzähler bleibt namenlos. Bis zuletzt. Dass es sich um die Stimme eines Mannes handelt, steht allerdings von Anfang an außer Frage: Die Perspektive ist unverwechselbar männlich. Sie erinnert ebenso wie die Sprache, der Stil, verdammt an T. C. Boyle. Der Erzähler (nennen wir ihn „E.“) gibt einen authentischen, womöglich exemplarischen Einblick in die männliche Psyche, ebenso deutlich wie unaufdringlich.
Die Menschen in E.s Umgebung haben sehr wohl Namen, sogar sehr originelle Namen. Seine Lieblingsschwester zum Beispiel, mit der ihn eine traumatische Kindheit zusammengeschweißt hat, tauft er Tamelda. Seine Kinder sind nummeriert: Der Erstgeborene, den er seiner ersten Freundin Mascha verdankt, heißt Primus; seinen zweiten Sohn, den er nicht nur Mascha, sondern vor allem Prock verdankt (der sich in die Beziehung drängt und dort erstaunlich lange, zu lange, verharrt), nennt er Secundus. Nach fast zwanzig Jahren Pause folgen Septima und Octavia – dank Angritt, die ihm heute diese unnötige, ungeliebte Geburtstagsfeier aufzwingt. Was schon sehr viel (oder alles) über E.s Beziehung zu ihr sagt.
Die Männer, mit denen er seit seiner Schulzeit tiefe und unerschütterliche Freundschaften pflegt, haben meist nur Nachnamen. Witte etwa, ein Schulfreund, der das macht, was E. am liebsten gemacht hätte (wäre da nicht Primus gewesen, der ihn mitten in seinem Fremdsprachenstudium in einen prosaischen Brotberuf zwang), nämlich: Literatur. Stilcke bildet den Gegenpol zu Witte – bei ihm dreht sich alles um Autos und Rennfahren. Und dann ist da noch Timo (der einzige Mann, der mit seinem Vornamen benannt wird), der ein plötzliches, tragisches Ende nimmt. Eine Erschütterung, von der E. sich nie wieder ganz erholen wird. Zumindest nicht bis zum heutigen Tag, an dem er seinen fünfzigsten Geburtstag feiern muss.
Auch das Reisen in fremde Länder spielt eine große Rolle, in diesem überaus vielfältigen Selbstgespräch. Vor allem aber erweist sich die Tour d’Horizon durch ein bewegtes Leben als Liebeserklärung an die Sprache als solche, an das Sprechen, an das Schreiben, das Lesen und das Hinübertragen von Inhalten von einem Sprachort zum anderen, das Über-Setzen zwischen Sprach-Ufern. Sprache, Bücher und Dichter – diese Themen durchweben E.s Lebensfluss samt Stromschnellen und Untiefen. Und immer wieder sinniert E. (50), dem Anlass entsprechend, über das unausweichliche Altern, das von nun an ein anderes, ein bedrohlicheres sein wird. Am meisten fürchtet er sich vor dem Vergessen. „Ich führe ja nicht Buch darüber, was ich vergesse.“ Womöglich ist jetzt schon vieles, was bisher geschah, aus seinem Gedächtnis verschwunden? Das, was er in diesen wenigen Stunden (ja, der Leser hat tatsächlich eine Art Echtzeit-Feeling!) aus diesem hervorkramt, ist jedenfalls absolut „überausführlich“, vergnüglich und zugleich nachdenklich stimmend. Ein sehr gelungener Roman.
Sabine M. Gruber (2025)