Rezension
Elena Salibra
Gen Norden – Nordiche
Gedichte Deutsch/Italienisch. Übersetzt von Franziska Raimund.
Edition pen LÖCKER 2021, 132 Seiten
ISBN 978-3-99098-094-1
Elena Salibra wurde 1949 in Catania geboren. Sie war Literaturwissenschaftlerin an der Universität Pisa. Ihre fünf Lyrikbände wurden in mehrere Sprachen übersetzt. 2014 ist sie nach schwerer Krankheit gestorben. Franziska Raimund, die sie persönlich kennenlernte, fand die Dichtung Salibras erstaunlich anders als die zeitgenössische italienische Lyrik; sie widmete sich den Übersetzungen mit intensivem Interesse und Wertschätzung für die Persönlichkeit der Autorin.
Überraschend ist die Sachlichkeit dieser Gedichte, die oft in Terzinen geschrieben sind. Und überrascht ist man auch immer wieder, wenn die Themen innerhalb der Texte spontan wechseln, wenn „mit einem geheimnisvollen Sprung von einem Bereich des Gehirns zu anderen“ (mit Mohnsamen, S. 39) gewechselt wird. Nicht alles können wir verstehen. Über das Geheimnis in den Gedichten zitiert Franziska Raimund im Nachwort aus einem Brief der Autorin: „… weil es hinter jedem Gedicht ein Geheimnis gibt. Aus dem Geheimnis erwächst die Vieldeutigkeit, die jedem lyrischen Ausdruck zueigen ist.“
Alltägliches wird in klarer Sprache geschildert, beschrieben, erzählt, aus unmittelbarer Beobachtung, von der „Rezeptsammlung“ am Beginn des Bandes bis zu den „Spitalskleinigkeiten“. Es gibt kaum ein Thema, das nicht in diese Lyrik Eingang findet. Die erzählfreudigen Gedichte sind gleichzeitig sehr zurückhaltend und sparsam, was das Persönliche betrifft. Dennoch fühlen wir das Bedrohliche, die Nähe des Todes von Anfang an. Die Sachlichkeit Salibras ist elegant, nur scheinbar kühl, tatsächlich voll Vitalität und Aufrichtigkeit wie für sie der Norden. Der Norden ist für diese in Sizilien geborene und aufgewachsene Dichterin anziehend wie eine Art „erstgeborenes Land“ (Bachmann). „Eine Nacht intensiven Lichts erhellt / die Stadt im Norden, in der ich ausruhen / möchte, aber wir müssen fast augenblicklich // wieder weg nach einem / – wie es scheint – entscheidendem Termin“. Aus „In Uppsala“, wo Elena Salibra ihre Krankheit behandeln ließ: „… die Helligkeit des Eises leuchtet auf den Stiefelspitzen. Tag zwei // bricht gleichsam aus Gewohnheit an, / verlöscht aber sofort. Du entzündest / ein schwedisches Streichholz, schaust auf // das Zifferblatt und reibst dir / die Augen. Es ist noch Zeit …“ Nüchterne Zeilen voller Beklemmung.
Bei der ersten Begegnung erscheinen Elena Salibras Gedichte spröde und fremd. Doch beim wiederholten Lesen werden aus den zweidimensionalen Zeilen lebendige, körperliche, unmittelbare Szenen, kleine Dramen, die berühren und ergreifen.
Elisabeth Schawerda (2024)