Rezension
Ingrid Maria Lang
German Fräulein
Roman
Buchschmiede 2023, 214 Seiten
ISBN 978-3-99152-431-1
Was wissen wir wirklich von unseren Eltern? Ahnen wir etwas von ihren geheimen Sehnsüchten, ihren unverwirklichten Träumen, den Hoffnungen, die sie einmal hegten, den Irrungen und Wirrungen ihrer Jugend, dem ungelebten Leben, das sie vielleicht mit sich herumtragen bis zu ihrem Tod, und den Geheimnissen, die sie vor uns bewahren? „Mir wurde klar, wie wenig wir in Wahrheit über unsere Eltern wissen, wie vage und unbestimmt sie ihre Biografie beschreiben, fast wie Heiligengeschichten – alles nur Legende und Anekdote, bis wir uns die Mühe machen, tiefer zu graben“, sagt der schottische Autor William Boyd. Dieses Zitat hat Ingrid Maria Lang nicht von ungefähr ihrem neuen Roman vorangestellt, mit dem sie sich nun nach mehr als zehnjähriger Publikationspause zurückgemeldet hat. Denn die Mühe, tiefer zu graben, kennzeichnet auch ihre Erzählkunst, tiefer zu graben in der Geschichte des letzten Jahrhunderts, der Geschichte des Alltags zumal mit all ihren Brüchen und Widersprüchen, ihren Verwerfungen und Verheerungen, ihren Sackgassen und Auswegen.
Wer aber tiefer gräbt, kommt darauf, dass kaum etwas so ist, wie es scheint: dass zwei Menschen, die einst für Außenstehende „ein schönes Paar“ abgaben – wie Karla und Hermann, die beiden Protagonisten dieses Buches –, miteinander selten glücklich waren und schließlich nur aus Gewohnheit und aus Erschöpfung zusammenblieben; dass etwas, das nach außen wie eine Familie aussieht, sich in der Innenansicht als Zweck- und Notgemeinschaft offenbart, in der sich nur wenig zwischenmenschliche Wärme entfaltet, dass eine vermeintlich sichere Existenz keine Sicherheit bietet, sondern voller Abgründe ist, dass auch hinter der aufrechten Fassade eines Menschen wie Hermann, der nach seiner Rückkehr aus Krieg und Kriegsgefangenschaft die Laufbahn eines Gendarmen ergreift, da er sich nur in der Uniform stark und selbstsicher fühlt, ein zutiefst gebrochener Charakter steckt, und dass auch ein so unfreier und fremdbestimmter Mensch wie Karla keineswegs vergessen hat, wie die Freiheit schmeckt, was es heißt, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Karla macht diese Erfahrung im Sommer 1945, dem ersten Sommer im Frieden und dem letzten in ihrer Heimat, dem Sudetenland: In diesem Sommer – ihr Mann Hermann gilt noch als vermisst – begegnet sie dem amerikanischen Besatzungssoldaten Private Sergeant Howard Tracy. Sie beginnt mit ihm Hals über Kopf eine Liebesbeziehung, wird sein „German Fräulein“ und erfährt mit ihm, was sie in ihrer Ehe mit Hermann nie erfahren hat: Momente der Unbeschwertheit und der innigen Zweisamkeit. „Wärme durchströmt sie, wenn er ihr entgegenkommt …“
Ein Stück Papier besiegelt schließlich das Ende ihrer Beziehung; darauf steht, in fetten Lettern: Soldier Transfer. Howard verschwindet auf Nimmerwiedersehen, und sie findet sich schon bald in einem anderen Leben wieder: Als Angehörige der deutschsprachigen Bevölkerung wird auch sie, zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern, aus ihrer Heimat vertrieben; zum Zeitpunkt der Ausweisung ist sie im vierten Monat schwanger. Hermann, ihr verschollen geglaubter Ehemann, steht eines Tages wieder vor der Tür, findet an ihrer Seite eine Tochter, Antonia, die nur auf dem Papier die seine ist, will sich zunächst im Groll von ihr abwenden und mit ihr für immer brechen, besinnt sich aber, auf Zureden seines Bruders, eines Besseren: „Du bist verheiratet, hast ein Kind, Du kannst schon morgen aufs Amt gehen und erhältst eine Wohnungszuteilung.“ Pragmatismus siegt über alle Gefühle, man beginnt von vorn, man versucht zu vergessen, wenn es sein muss, mithilfe von Alkohol, man rauft sich zusammen, man sorgt sich umeinander, nicht ohne sich zugleich misstrauisch zu beäugen und zu belauern. Das Kind, das Hermann für seinen leiblichen Vater hält, verbindet die beiden und trennt sie zugleich, was aber vor allem zwischen ihnen steht, ist der Krieg, den Karla im Hinterland, Hermann an der Front erlebt hat: „Wovon hatte sie schon Ahnung?“, fragt er sich einmal. „Hatte sie jemals darüber nachgedacht, was er da draußen in diesem kältestarrenden Land getan hatte? Allein oder mit anderen Männern? Er hatte zahllose Menschen getötet, Menschen, die sie Feinde nannten, hatte sie beschlichen, belauert, von hinten überfallen; es war Krieg, er war dafür dekoriert worden.“ Diese Verrohung und Brutalisierung wird Hermann nie verarbeiten können, Karla wiederum wird an seiner Seite früh altern, ein Leben leben, das nicht ihres ist, in Wohnungen, in denen sie sich nicht zuhause fühlt, an Orten, die ihr die verlorene Heimat nicht ersetzen können. Doch gerade in den dunkelsten Momenten, an den Tiefpunkten, die sie gemeinsam erreichen – Hermann verliert, heillos überschuldet, seinen Posten als Gendarm, muss ins Gefängnis, strauchelt immer wieder im Beruf, um mühsam wieder aufzustehen – erweist sie sich als die stärkere, gefestigtere Persönlichkeit von beiden; sie gibt dem Mutlosen Mut, dem Haltlosen Halt, geht dabei bis an den Rand ihrer Kräfte – und darüber hinaus.
Was Ingrid Maria Lang uns in ihrem Roman mit großer sinnenhafter Prägnanz vor Augen führt, das sind durch Krieg und Nachkrieg zutiefst beschädigte Leben. Ihre Entscheidung, die Geschichte, die mehrere Jahrzehnte umfasst, weder aus der Vogelschau zu erzählen noch aus der Perspektive einer einzigen Figur, sondern alternierend einmal aus Karlas und einmal aus Hermanns Perspektive, bis schließlich am Ende nur noch die Perspektive der Tochter Antonia übrig bleibt, kommt dem Buch sehr zugute, verleiht ihm epische Breite, menschliche Tiefe und – was das Wichtigste ist – lässt es gerecht sein gegenüber seinen Figuren. Gerechtigkeit walten zu lassen mit den Mitteln der Literatur – Ingrid Maria Langs Roman ist ein schönes Beispiel dafür.
Christian Teissl (2024)