Rezension
Petra Sela
GESTAN, VUAGESTAN UND HEIT. Wien in den Fünfzigern und Sechzigern
Verlagshaus Hernals 2024, 116 Seiten
ISBN 978-3-903442-49-8
Die Dialektdichtung ist ein schwieriges Feld, haftet ihr doch allzu oft der Geruch einer verklärten Nostalgie an. Doch genau hier setzt Petra Sela, die auch als Verlegerin (Edition Doppelpunkt), bildende Künstlerin, Galeristin sowie Kulturmanagerin, kurzum als Universalistin tätig war und ist, mit ihrem neuen Band „gestan, vuagestan und heit“ an. Schon im Vorwort weist sie darauf hin, dass die häufig herbeigesehnte „gute alte Zeit“ längst nicht so rosig war, wie sie oft dargestellt wird. In zwei Kapiteln („Wias amoi woa“ und „Waun i duachn Brooda geh“) reihen sich 97 Dialektgedichte aneinander, die uns jedes für sich in eine eigene kleine Welt einer anderen Zeit entführen – ungeschönt, oftmals lakonisch, manchmal auch brutal mit der Wirklichkeit konfrontierend. Man könnte sie auch als lyrische Schneekugeln der Nachkriegszeit bezeichnen.
Petra Sela teilt mit der Leserschaft Erinnerungen an ihre Kindheit, lebendige Momentaufnahmen manchmal banaler, dann aber wiederum umso dramatischerer Ereignisse aus einer Zeit, die wenige noch erinnern und die vielen schon sehr fremd ist. Sie erweist sich ganz nebenbei als Archivarin und Schutzpatronin längst schon dem Vergessen anheimgefallener Begriffe aus dem Wienerischen – etwa „Da Budlschera“ auf Seite 11: „Amoi im Monat is mei Votta / zum Budlschera gaunga // Bis aufe zu de Uawaschln / hod a se de Hoa oschean lossn – / a Ibableibsln vun Kriag / waunst mi frogst“. Dabei ist bemerkenswert, dass sich Sela einer in Nuancen ganz eigenen, charmanten Transkriptionsweise der Dialektsprache bedient, die sich als phonetisch vollkommen nachvollziehbar erweist und mit großem Vergnügen zu lesen ist.
„gestan, vuagestan und heit“ ist zwar angelegt wie ein Erinnerungsalbum, was auch die elf ausgewählten, verspielt auf die Texte Bezug nehmenden Schwarz-Weiß-Fotografien von LAHERB und Paul Dinter unterstreichen, doch ist das Buch noch viel mehr. Sela erzählt in ihren ungereimten Gedichten kleine Geschichten vom Eisstoß im Donaukanal, erweckt die Milchfrau wieder zum Leben, ebenso den Eismann, erinnert an die Pferdekutsche, mit der Brot und Gebäck von der Bäckerei Anker geliefert wurde („A Schnoitza mit da Zungan – / und weida is gaunga“, S. 16), ans Tröpferlbad oder an sonstige, heutzutage skurril erscheinende Begebenheiten wie das Kegelschießen auf dem Heustadlwasser im Winter oder an Begriffe wie den „Woschdoog“ (S. 24). Ein besonderes Kleinod findet sich auf Seite 36: „A klaane Gossn / eng und mufflat / de Heisa biagn se / so ois dedn sa se vaneign // da Veitschi wochst / bis auffe zua Pawlaadschn / do fü i mi daham // riachst des ausglossane Schmoiz?“ – Nach diesen Zeilen vermeint man es deutlich zu riechen, das Schmalz, und mit dem Geruch entsteht eine Atmosphäre und mit der Atmosphäre eine leise Ahnung. Unweigerlich erzeugt Sela hier ein Edvard Munch’sches Gemälde vor dem geistigen Auge, dem man sich nicht erwehren kann. Hier schwingt der literarische Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts mit.
Im zweiten Teil unternehmen wir eine wienerisch-burleske Zeitreise durch den Wurstelprater. Aus einer Geruchswolke von Zuckerwatte, Salzgurken, türkischem Honig und Rettich taucht etwa auf Seite 62 der Toboggan auf, der hohe Turm aus Holz, von dessen Spitze sich damals schon eine ebenso hölzerne Rutsche zu Boden schlängelte und den Gästen ein besonderes Abenteuer im Kopf bot: „und amoi hod se a Madl / an Hoizschbau in Bauch einegreent“. Der Mythos um den gefährlichen Holzspan – der eigentliche Thrill dieses Fahrgeschäfts – rankte sich noch mehrere Generationen lang um den Turm wie seine Rutsche; erst vor kurzem fand er in Ernst Moldens Lied „Rudschduam“ eine erneute, etwas ironische Erwähnung.
Im letzten Kapitel des zweiten Teils dringen wir in den Mikrokosmos der Kleingartenvereine ein. An der Alten Donau verbrachten damals schon viele Wiener ihren Sommerurlaub am vereinseigenen Strand, an der Würstelbude oder im Garten. Sela zeichnet auch hier präzis beobachtete Alltagsszenen aus einer bald fremdartigen Zeit mit all ihren heute beinahe märchenhaft erscheinenden Momenten. Mit kurzen, aber sicher gesetzten Zeilen erschafft sie Skizzen einzelner, vermeintlich banaler Begebenheiten, die gerade wegen ihrer Schlichtheit im Abgang ein lebendiges Bild entstehen lassen: „Ob und zua / hod de Zigarettn / vun mein Uagroßvatta aufgleicht / und iagendwaun / bin i daun eigschlofn“ (S. 100).
Petra Selas im Verlagshaus Hernals erschienener Band besticht neben der Covergestaltung, dem schlichten, den Texten gerecht werdenden Satz und all den bereits erwähnten Vorzügen vor allem durch eine Tatsache: Wir haben es hier mit einem Zeitdokument zu tun, mit Aufzeichnungen einer Zeitzeugin, die ihre Erinnerungen in Gedichtform zu Papier gebracht hat und ihnen dergestalt in einer Weise Leben einhaucht, wie es kein anderes Medium vermag – alle Leser bekommen ihre ganz individuelle Diashow im Kopf. Dass sich im Anhang ein chronologisch angelegtes, umfangreiches Glossar ohne störende Fußnoten findet, sei abschließend noch lobend erwähnt – ein durch und durch gelungenes Projekt.
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