Rezension
Wolfgang Kühn
Grenzenlos
Anthologie
Literaturedition Niederösterreich 2020, 247 Seiten
ISBN 978-3-902717-54-2
Die Literaturedition Niederösterreich macht einfach gute Bücher. Das hat nichts mit Aufmachung, Optik zu tun, sondern mit guter, solider Buchgestaltung. Literarisch niveauvolle, spannende, aufrüttelnde, verstörende, besinnliche Texte könnte und kann man auch online lesen. Für den bibliophilen Menschen geht es aber auch um Augenlust und das haptische Erlebnis. Die Anthologie „Grenzenlos?“, Hardcover mit Fadenbindung und Lesezeichenbändchen macht Freude, wenn auch das Titelbild, ein menschliches Gehirn in einer Kubuskäfigbox, abgestellt auf einer Betonplatte, Gänsehaut verursacht. Aber beruhigend ist gleichzeitig, dass der Prägedruck ein haptisches Erlebnis beim Darüberstreichen mit den Fingerkuppen verursacht, das die Assoziation weckt, dass ein Blinder, wenn er das Buch aufschlägt, vielleicht sehend werden könnte. Der rückwärtige Buchdeckel in einem abgedämpften Hellgrün, das sich auch beim Aufblättern wiederfindet, gibt Anlass zu Hoffnung, die eben keine blinde ist.
Herausgeber Wolfgang Kühn vereint in dem Band vierzehn (Nieder)Österreichische Autoren und –innen, sowie den Bildenden Künstler Matthias Mollner. „Als wir im Dezember 2019 die Einladung zur Teilnahme an der vorliegenden Anthologie an vierzehn ausgewählte Autorinnen und Autoren verschickten“, schreibt der Herausgeber im Vorwort, das er Versuch eines Vorworts in Zeiten wie diesen nennt, „war die Welt noch eine andere.“ Das C-Wort hat alle getroffen. „Aus Angst vor der Ausbreitung dieses unberechenbaren Virus gingen zum Schutz des eigenen Landes die Grenzbalken runter, der März 2020 wird in die Geschichte eingehen, in dem die erträumte Einheit zumindest vorübergehend wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen ist“, schreibt Kühn. Das grenzenlose Europa auf das die Anthologie Bezug nehmen wollte, das ist so nicht mehr vorhanden, aber vielleicht war es ohnehin immer schon in den Gehirnen der Menschen unterschiedlich gedacht und interpretiert. Sechs der insgesamt 15 Beiträge haben den Herausgeber vor Covid-19 erreicht, die anderen danach. Die „davor-Texte“ erzählen von berechenbaren Grenzen, beschreiben vertraute Bilder, rufen im Gehirn Gegenwärtiges hervor, das plötzlich Vergangenes ist, aus dem historisch vertrauten Fluss geraten ist. Die „danach-Texte“ sind auf Sinnsuche, versuchen sich in Sinnstiftung, die Literaten allemal gelingt, weil sie sich dessen Bewusst sind, dass verordnete Sinnstiftung immer in Demagogie ausartet. Literaten sind nicht systemrelevant, aber ihr Denken ist in der Lage das „System Mensch“ zu retten, denn ein „System“ ohne Mensch ist unmenschlich. Untrennbar zum „System Mensch“ gehört die „Natur“, aber nicht pur, sondern vom Menschen gestaltet. Gestaltung ist ein schöpferischer Akt, kein zerstörerischer. Der Herausgeber hat das Buch behutsam zusammengestellt, die Fotografien der Objekte des Bildenden Künstlers Matthias Mollner – immer wieder Variationen des Gehirns, und bunte aus Stacheldraht und Glasmurmeln, Schrauben, Papiermaché etc. gestaltete Bäume – so zwischen den Texten platziert, dass die Bebilderung zur meditativen Betrachtung einlädt. Die Reihenfolge der Texte ist planvoll gewählt. Die Idee einer grenzenlosen Lesereise kriecht aus dem Gehirn, wie einer der Würmer, die aus den Gerhirnobjekten von Mollner sich herauswinden. So seien die Literaten nacheinander genannt: Milena Michiko Flašar, Ilse Tielsch, Julian Schutting, Barbara Neuwirth, Thomas Sautner, Ana Marwan, Xaver Bayer, Verena Mermer, Harald Friedl, Zdenka Becker, David Bröderbauer, Michael Stavarič, Peter Steiner und Sandra Gugić. Allen gemeinsam ist, dass sie in ihren Biografien prägende Grenzerfahrungen gemacht haben, dass sie obwohl unterschiedlichen Generationen angehörend die Literatur als ihr (Über)Lebensmittel benutzen, auch wenn dieses Vehikel mitunter von Alltagsmenschen als nicht fahrtauglich eingestuft wird. Und mehr oder weniger sind sie Migranten/innen, ob erzwungenermaßen oder freiwillig. Wie schreibt doch Sandra Gugić so treffend: „Gibt es ein richtiges Schreiben in Zeiten der Pandemie?“ „Können wir aus der schreibenden Einsamkeit einen Raum für die Gemeinschaft aufmachen?“ Ja, Schriftsteller beiderlei Geschlechts können das und sie müssen das, um der Mitmenschlichkeit Willen, die nicht in Vergessenheit geraten darf.
Rezensentin: Doris Kloimstein