Rezension
Peter Paul Wiplinger
HASLACH – (BE-)DENKEN
Mit Beiträgen von Erich Fried, Gerald Grassl, Corinna Griesbach, Peter Gstettner, Ludmilla Leitner, Dominik Reisinger, Magdalena Pierzchalska und Arletta Szmorhun
Edition Tarantel 2023, 218 Seiten
ISBN 978-3-9504898-7-3
„Die Wahrheit eines Ortes liegt in den Fakten, aber auch in den erzählten und verschwiegenen sowie vergessenen und unbekannten Geschichten seiner Bewohnerinnen und Bewohner.“ – Diese Widmung hat Peter Paul Wiplinger seiner eigenen, wahrhaft umfassenden und mit höchstem geschichtsbewusstem Engagement zusammengestellten Chronik – „allen Haslacherinnen und Haslachern der Vergangenheit, Gegenwart und vor allem der Zukunft (…) zur Kenntnis und zum Bedenken“ gewidmet – vorangestellt. (Weshalb sie offensichtlich nachträglich beigefügt wurde, darüber lässt sich spekulieren.) Einer Chronik, die vielmehr eine Antichronik ist, weil der Autor darin entgegen der offiziellen Dorfchronik die Geschichte der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus in seinem Heimatort Haslach, der keine 100 km von Mauthausen und von Hartheim entfernt liegt, wie er anmerkt, schonungslos aufbereitet – mit all ihren dunklen und in der offiziellen Version vergessenen oder gar bewusst ausgesparten Kapiteln. Und an der Stelle muss man die zuvor verwendete Genrebezeichnung „Chronik“ schon wieder infrage stellen, denn es handelt sich vielleicht doch mehr um eine Enzyklopädie einer Kultur des Vergessens, Verdrängens, des Beiseiteschiebens unangenehmer Wahrheiten und historischer Fakten. Der Autor verwendet den Begriff Journal, eine Bezeichnung, die der Textsammlung in jedem Fall gerecht wird.
Man muss sich bei der Lektüre auch erst einmal zurechtfinden. Ein Vorwort des Historikers und Redakteurs Gerald Grassl eröffnet den Reigen an Primärtexten des Autors, an Faksimiles, Fotos (darunter etliche seiner Frau und Lebensgefährtin Annemarie Susanne Nowak), Korrespondenzen, Schnipseln aus Publikationen sowie Gedichten Wiplingers, Fremdbeiträgen, Zeitungsausschnitten, einem Interview sowie an Zitaten und Zeittafeln, dem ganz hinten, etwas versteckt, das Inhaltsverzeichnis angehängt wurde. Die Edition Tarantel hat sich an die schier unlösbare Aufgabe, diese Fülle an unterschiedlichsten Textsorten samt Bebilderung in verdaulicher Manier und grafisch anspruchsvoll aufzubereiten, herangewagt und unter der Ägide Grassls herausgebracht. Wie wertvoll diese Arbeit heute ist, für die Republik Österreich und für die Demokratie, lässt sich noch nicht erahnen. Eines hat das Journal, das im Jahr der Enthüllung des Gedenksteins für einen Wehrmachtsdeserteur erschienen ist, schon bewirkt: die Auseinandersetzung der hiesigen Bevölkerung mit ihrer Vergangenheit, die Möglichkeit zur Aufarbeitung etlicher Versäumnisse und die Ehrung der wahren Opfer des Nationalsozialismus.
Zentral in dem Buch ist Wiplingers Engagement für die Errichtung zweier Gedenksteine, die er nur durch einen unermüdlichen Kampf gegen die Behörden erwirken konnte: einen für die Haslacher Opfer der „Aktion T4“ (Einweihung 2014!), wie die Nationalsozialisten die systematische Vernichtung von in ihren Augen „unwertem Leben“, die NS-Bezeichnung für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, so lapidar bezeichneten, und einen Gedenkstein (Einweihung 2022!) für einen Wehrmachtsdeserteur, namentlich Josef Steffelbauer (1918–1943), der 25-jährig als „Fahnenflüchtiger“ von einem Nazi-Polizisten angeschossen worden war und in der Folge durch „Verblutung“, wie das in Amtsdeutsch formuliert wurde, seiner Verletzung erlegen ist. Dank Wiplingers gründlicher Recherchen kennen wir das in den Akten vermerkte Ergebnis der Leichenbeschau: „Fahnenflüchtig. Bei Aufgreifen vom Polizisten beim Fluchtversuch angeschossen.“
Beide Gedenksteine liegen dem Kameradschaftsbund im Wege, wenn die strammen Herren alljährlich zu Allerheiligen zum Kriegerdenkmal, das ebenso auf Kirchengrund liegt, marschieren und diese passieren müssen. In einem Text („Der Deserteur“, S. 169) nimmt Wiplinger dazu Stellung: „(…) möchte dem sepp ein denkmal setzen / ein heldendenkmal weil er nicht weiter / mitmachen wollte beim töten im krieg / weil er wissend lieber seinen eigenen tod / riskiert und in kauf genommen hat / weil er so einen wirklichen heldentod gestorben ist / in einem widerstandsakt gegen das ns-regime / und deshalb gehört seiner gedacht mit einer / gedenktafel nein nicht für einen feigling / sondern für einen den kriegsdienst / verweigernden tapferen mann der / wegen seiner haltung zu tode kam“.
„Haslach – auf den Spuren der Erinnerung“ heißt ein Kapitel (S. 48), das auch als Buchtitel herhalten können hätte, in dem Wiplinger die Beweggründe zur Entstehung des Journals skizziert: „Ich sollte an den Bürgermeister einen Brief schreiben. Und ihn fragen, ob mittlerweile die vom vorigen Bürgermeister ‚verteidigte‘ bzw. zumindest bagatellisierte Ehrenbürgerschaft von Adolf Hitler durch einen Formalbeschluss des Gemeinderats gelöscht worden ist.“ Ebendieses Haslach an der Mühl ist Wiplingers Geburts- und Heimatort, wie ihm wichtig ist zu betonen, und es hat eine typisch österreichische Geschichte – eine der unrühmlichen Art. Und so macht der Autor, was er, der 1960 Haslach verlassen hat und nach Wien gezogen ist, in all seiner Zuneigung und Verbundenheit zu seinem Heimatort, aber auch der „wirklichen Wahrheit“, wie er schreibt, verpflichtet, machen muss: das Verhalten der Haslacher Bevölkerung während der Zeit des Nationalsozialismus zu erzählen, offenzulegen, was geschehen ist. Wiplinger benennt die Mitläufer, Denunzianten, die Nazis und die „Obernazis“ beim Namen und legt seinen Schreibfinger auf die Wunde, genau dorthin, wo es wehtut: auf die Vergangenheit und ihre Bewältigung. Aber er erwähnt auch jene Menschen, die in den dunkelsten Jahren der österreichischen Geschichte Anstand bewahrt haben, wie etwa die Mariedl Mathie, die den Loisl Schopper, ein sogenanntes Mohnlutscherkind mit Sprachfehler, der seinen Unmut über Hitler während der NS-Zeit öffentlich und vehement kundtat und deshalb verfolgt wurde, versteckt und so sein Leben gerettet hat. Wiplinger sammelt konsequent Erinnerungen der Überlebenden an die Opfer des Nationalsozialismus und gibt diesen Menschen zumindest einen Teil ihrer Würde zurück – und das beinahe nebenbei.
In diesem Journal reiht der Autor Erinnerungen an scheinbar unwichtige Personen neben jene an große Ereignisse, rekonstruiert seine Familiengeschichte und beschreibt die Verwerfungen mit der Dorfgemeinschaft im 38er-Jahr: Wiplingers Vater, vor und nach der Nazidiktatur mehrmals Bürgermeister des Ortes, und Mutter waren die Einzigen in ganz Haslach, die gegen die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ gestimmt haben – und sie waren fortan Repressionen ausgesetzt, sogar eine Bombe wurde durch ihr Fenster geworfen.
Der Autor erzählt aus eigenen Erinnerungen an die Kindheitstage, von seinen Eindrücken des Gefangenenmarsches der KZ-Häftlinge, vom Verbrennen der Hitler-Bilder mitten auf dem Dorfplatz, das aber immer im Geheimen geschah, von den Panzersperren und von dem Moment, als sich die Haslacher Bevölkerung beim Einander-Grüßen umgewöhnen musste, als es plötzlich verboten war, „Heil Hitler!“ zu sagen, oder von den Kolonnen ungarischer Flüchtlinge. Daneben hat er Erinnerungen von Haslacherinnen und Haslachern zusammengetragen, die allesamt ein Stimmungsbild einer Zeit abgeben, in der sich die Menschlichkeit abgemeldet hatte: Die Tochter des Haslacher Gemeindearztes etwa erzählt vom Abtransport der „Behinderten“, der „Deppen“, wie die Opfer der systematischen Ermordung (Aktion T4) von in den Augen der Nazis „unwertem Leben“, also von Menschen mit besonderen Bedürfnissen, genannt wurden, in Richtung des Schlosses Hartheim mit einem Postbus: „Sie sind am Fenster gestanden und haben geschrien, als sie abgeholt wurden. (…) Mein Vater konnte es nicht verhindern. Sie haben sich an die Fenstergitter geklammert, weil sie vielleicht instinktiv gespürt haben, was ihnen bevorsteht.“ (S. 110)
Es sind unangenehme Fakten, die Wiplinger hier über, wie er es nennt, das damalige „Obernazidorf“ Haslach zusammengetragen hat. Die eingangs erwähnte, nachträglich eingefügte Widmung des Autors endet schlussendlich mit versöhnenden Worten: „Dies aufgrund meiner lebenslangen Verbundenheit mit meinem Geburts- und Heimatort Haslach an der Mühl.“ So will man auch dieses Kompendium verstehen: als Geschenk an die Haslacherinnen und Haslacher, an die Oberösterreicherinnen und Oberösterreicher, an die Österreicherinnen sowie Österreicher, die nun mit all den hier zusammengestoppelten Fakten, Erzählungen und Gedichten eine Ergänzung ihres Geschichtsbildes vorliegen haben, in dem die Opfer beider Seiten Platz haben: die der Unterdrücker und die der Unterdrückten. Denn Friede und Vergebung ist nur möglich, wenn sich beide Parteien auf eine gemeinsam erzählte Geschichte einigen können. Dieses Journal ist wohl ein wichtiger Schritt in diese Richtung, auch wenn das heute (noch) nicht von allen so gesehen werden will. Der Autor jedenfalls, der Professor Peter Paul Wiplinger, hat damit einmal mehr unter Beweis gestellt, dass er nicht ohne Grund Träger etlicher Ehrentitel – u. a. des Großen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich – ist.
Armin Baumgartner (2024)