Rezension
Manfred Chobot
Hawai'i.
Mythen und Götter
Wieser, Klagenfurt 2022, 332 Seiten
ISBN 978-3-99029-497-0
Extreme Landschaften bringen meist extreme Sagen hervor, das heißt, diese Sagen erzählen sich wie von selbst aus der Erde heraus. So sprudeln aufregende Heldentaten gerne aus den Alpen hervor, aus der Donau und manchmal als witzige Irrläufer aus der Stadt Wien.
Aber gegen die vulkanische Kraft auf der anderen Seite der Welt wirken die heimischen Geschichten schaumgebremst, während Sagen und Mythen in Hawaiʻi zappeln und bocken, wenn sie für einen Sagen-Band zusammengefangen werden.
Manfred Chobot ist vor Jahren als Surf-Künstler nach Hawaiʻi gekommen und hat als Dialektforscher und urbaner Volkskundler aus Wien bald gemerkt, dass man den Erzählungen und Mythen nachgehen muss, will man das Kräuseln der Wasser der Gegenwart verstehen.
Die gut sechzig Geschichten über Mythen und Götter sind umklammert von einem „Götter-Überblick“ vorne und einem Glossar hinten, in beidem erweist sich der Autor als kundiger Zuhörer und Dialektologe. Die Hawaianer hatten lange auf Schießpulver und Schrift verzichtet, weil beides dem mündlichen Erzählen und dem genauen Hinhören auf die Parolen der Götter im Weg stünden. Mittlerweile sind ihre Geschichten verschriftlicht und wesentlicher Baustein für die Identität als Partikel der USA. Manfred Chobot hat sich freilich die Geschichten zusätzlich mündlich erzählen lassen, um ihren Feinschliff in seiner Aufzeichnung unterzubringen.
Das Hauptelement all dieser Erzählungen ist der Vulkanismus, mit dem Land, Leute, Gewässer und Winde in ständiger Verbindung stehen. Während es in den Alpen in den Erzählungen immer bergab geht, wenn Lawinen, Muren und Steinschläge hinabdonnern, geht es in Hawaiʻi ständig bergauf, wenn Fische aus dem Wasser springen, Lava in die Höhe zischt und Dämpfe die Drachenflieger in die Lüfte treiben.
Dieser „Aufwärts-Bewegung“ ist auch das wichtigste Requisit der Helden verpflichtet, es geht um den Auftrieb des Kanus, mit dem die Götter und Menschen schier verwachsen sind.
Die Geschichten widmen sich vorerst dem trickreichen Halbgott Maui, der eruptive Kräfte in sich speichert. Sein oberster Trick besteht darin, dass er den Himmel heben kann, wen dieser zu bedrückend auf den Menschen lastet. Was vielleicht für Europäer nach einem Wettergott klingt, der es aufreißen lässt, wenn es genug geregnet hat, erweist sich als viel mehr. In einem einzigartigen Bildungsvorgang kann Maui das Niveau der Gesellschaft heben, mit raffinierten Argumenten erweitert er den jeweils sichtbaren Horizont.
Das zweite Kapitel ist Pele, der Göttin des Feuers zugesprochen. Sie kann nicht nur mit den Ausbrüchen aller Art umgehen, die Menschen absichern oder warnen, sie führt einen Zauberstab mit sich, womit sich die verstecktesten Vulkane ausmachen lassen. Mit diesem Stab lassen sich auch Gefahren für das gesellschaftliche Leben orten, Pele fungiert als sprichwörtliche Seismologin für das Beben jeglicher Art.
„Das Wasser des Lebens“ stellt neben den üblichen Heilkräften von Wasser ein ganzes Wasserreich vor. Am Boden des Meeres nämlich soll sich eine Gegenwelt befinden, in der sich das Leben stets neu entwickelt. Die Halbgötter pendeln zwischen diesen Welten und punkten, wenn sie mit den Methoden der einen Welt stracks in die andere ziehen.
Der Mythos von der Erschaffung der Menschen wird dabei stets überprüft und nachjustiert. Auch die Verhaltensmuster der Götter sind variabel, sie können bei Bedarf wieder heiraten, neue Menschen zeugen, dem Hundegott zusätzliches Pouvoir verpassen, damit er seinen Kult verbreiten kann. Oft geht es aber auch nur um einen handwerklichen Kraftakt, indem ein Felsen ins Wasser geworfen wird, damit neues Land entsteht.
Höhepunkt des gesellschaftlichen Treibens ist das Gewusel der kleinen Leute, das in allen Gesellschaften beschrieben wird. Im vulkanischen Mythos-Reigen freilich werden die kleinen Leute zu einer eigenen Gottheit und treten als „Menehune“ auf. In dieser Funktion retten sie Fische, bereiten Feste vor, reparieren die lebensnotwendigen Kanus oder greifen einander schlicht unter die Arme, wenn jemand abzusaufen droht im doppelten Sinn des Wortes.
„Die Menehune sind ein merkwürdiges Völkchen: klein von Gestalt und groß von Aktivität. Was immer von ihnen verlangt wird, machen sie gemeinsam. Eine ihrer Regeln bestimmt, dass jede begonnene Arbeit noch in derselben Nacht fertiggestellt sein muss, andernfalls bleibt sie unvollendet, denn sie beschäftigen sich nicht zwei Mal mit derselben Sache. Ihr Leitspruch lautet: In einer Nacht – bis zum Morgen ist es vollbracht.“ (209)
Das letzte Kapitel kümmert sich um lose organisierte Götter, denn auch das gibt es auf den feurigen Inseln, dass jemand aus der Göttergewerkschaft austritt und sich selbst durchsetzt. Die Grenze zwischen Adeligen, Mächtigen und Göttern ist dabei wie überall auf der Welt fließend. So wirkt das ursprüngliche Gebot, wonach nur Adelige den Freizeitsport Drachenfliegen ausüben dürfen, auch in die umgekehrte Richtung. Durch Drachenfliegen wird man adelig.
Hinter dieser skurrilen Doppelbödigkeit der Geschichten ist auch wieder Manfred Chobot authentisch zu erkennen. Vieles, was hinter den Mythen und Göttern aus Hawaiʻi steckt, steckt auch im literarischen Werk des Autors, der als Vertreten der „schreibenden Menehune“ alle seine Werke der Nacht gewidmet hat und stets im Morgengrauen fertig war.