Rezension
Brigitte Stuiber
Herzschuss
Familiendramen um Klimt und Schiele
MyMorawa, Wien 2022, 284 Seiten
ISBN 978-3-99129-914-1
Dieses Buch öffnet Türen! Wer einen Klimt oder Schiele in einem Museum betrachtet, der bewundert nicht nur Farbgebung, Bildaufbau und Maltechnik, sondern fragt sich vielleicht auch, wer die Abgebildeten wohl sind, in welcher Beziehung sie zum Maler standen und in welchem Haus oder über welchem Kamin das Bild wohl gehangen sein mag. Wie in vielen Fällen, wenn beharrliche Fragen sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben wollen, stellt sich heraus, dass alles nach kürzester Zeit irgendwie mit dem Nationalsozialismus zu tun hat. Das ist bei Kunstwerken genauso wie bei Firmen, bei Wohnungen wie bei Villen. Wer den Teppich hebt, der findet die Leichen im Keller. Ein genauer Blick bringt Verbrechen zu Tage. Für Antworten auf diese stillen Fragen hat sich seit mehr als 25 Jahren im Falle der Kunst ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt: die Provenienzforschung. Wer so gewichtige Werke wie jenes von Sophie Lillie über geraubte Kunstsammlungen angelesen und durchgeblättert hat, muss feststellen, dass sich auf jeder Seite mehr verbirgt als eine Geschichte, mehr als ein Film oder Roman.
Brigitte Stuiber zeigt, wie das solcherart Verborgene, Verdrängte und Vergessene erzählt werden kann. Ihr Buch rekonstruiert die Geschichte der miteinander verwandten Familien, Pulitzer, Lederer und Munk aus der Perspektive verschiedener ihrer Mitglieder. Am Beginn dieser Spurensuche sitzt anno 1936 eine ungarische Gräfin, die eigentlich keine ist und Serena Lederer heißt, im Palais Trautson und lauscht bei einer Veranstaltung des Collegium Hungaricum dem Vortrag eines jungen Mädchens auf Ungarisch und Deutsch. Das Mädchen, das sein Lampenfieber erfolgreich bekämpft hat, ist niemand anderer als die Mutter der Autorin. Mit dieser Szene beginnt die Geschichte und bringt interessante Bezüge zum Mann, nach dem der Pulitzerpreis benannt ist, zur Freiheitsstatue in New York, zu Schloss Miramare und seinen Bewohnern und zur Malariainsel, die sich durch Paul Kupelwieser zum Ferienparadies der Brioni-Inseln entwickelt und nicht zuletzt ins Wien vor dem Ersten Weltkrieg mit einer großbürgerlichen Gesellschaft, die in vollen Zügen ihrem Kunstgenuss frönt. Die Familie Lederer sammelte Klimt, förderte Schiele. Die Lebensgeschichten beider Künstler sind eng mit dieser Industriellenfamilie verbunden. Schiele versucht, den Sohn der Familie, Erich Lederer, davon zu überzeugen, sein künstlerisches Talent ernsthaft zu entwickeln, und Klimt wird Maria Munk mehrmals portraitieren. Maria oder Ria ist die schöne, reiche Tochter, die sich nach einer anderen Rolle als jener, verheiratet zu werden, sehnt und sich in Schwärmereien zu einigen Wissenschaftlern verliert. Nach enttäuschter Liebe zu dem weltreisenden Schriftsteller mit NS-Verbindungen Hanns Heinz Ewers wird sie mit einem Herzschuss ihrem Leben ein Ende bereiten. Die Mutter Aranka lässt Maria von Klimt auf dem Totenbett malen.
Der Roman öffnet nicht nur eine Tür, sondern in jedem Erinnerungsraum tun sich weitere Türen auf, manche führen ins Exil, andere in die Vernichtungslager der Nazis.
Um den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu unterstreichen, sind die beschriebenen Gemälde wie auch die handelnden Personen abgebildet, selbst die kleine perlmutterbesetze Pistole, was fast ein wenig zu viel des Guten ist. Dass die Briefstellen so großzügig, in Blöcken grau unterlegt, abgedruckt werden, mag jene, die auf ein geschlossenes, homogenes Erscheinungsbild eines literarischen Textes wert legen, vielleicht stören, es erleichtert aber die Lesbarkeit.
Nach vollendeter Lektüre sind Besuche in der Sternwartestraße oder Bartensteinstraße, wo die Familien gewohnt haben, auf dem Döblinger Friedhof, in Bad Aussee oder im Belvedere, in Linz, in der Sezession mit dem Beethovenfries oder in der Neuen Galerie in New York mit Klimts Bild der Maria Munk zu empfehlen.
Robert Streibel