Rezension
Dorothea Nürnberg
Herzträume
Philosophisch-poetische Weltbetrachtungen
Ibera 2019, 96 Seiten
ISBN 978-3-85052-384-4
Der kurze Vorspann weist die Richtung, welche die knapp dreißig Beiträge verfolgen: die Zuflucht der Seele, geöffnete Pforten der Phantasie, der Kunst, der Philosophie, der Spiritualität. Der Kosmos der inneren Bilder führt ins Herz der ganz umfassend verstandenen Natur. Auf den nachkommenden Seiten folgen zum steten, stetigen Thema der Selbstreflexion viele oft kurz gehaltene Gedanken, die in ihrer oft aufeinander bezogenen Zusammenstellung vom Perspektivenwechsel des Bewusstseins (50) berichten und es mannigfach beleuchten. Der Bogen bleibt, auch bei dem Blick auf ein spezifisches Thema – wie Gemälde, schriftliche Dokumente, Natur, Tiere – immer weitläufig; es geht stets um ein verstehendes Nachspüren von äußerer Erscheinung und inneren Werten. Im Fließen und Nachhallen der Gedanken kehren einige Bilder als Metaphern immer wieder: das Schiff, der Baum (-geflüster, -flirt), der Stern, das Herz und insbesondere das Licht bis hin zur Lichtgeburt (15) sowie, stets (indirekt) präsent, doch ebenso oft deutlich angesprochen das Wort. Es hebt die Geschicke der Menschen empor ins erwachende, erwachte Bewusstsein, (…) ins Licht der Selbstreflexion (36). Durch das Dichten entsteht Transzendenz und Dialog zwischen den Welten und Jahrhunderten. Ein Geheiß zum gleichzeitigen Hören, das Dorothea Nürnberg nicht nur thematisch bewältigt, sondern auch formal darstellt: Es gibt hier nur wenige »ganze« Sätze, assoziative Wortbildungen reihen sich in einer gedanklichen Folgerichtigkeit aneinander, wie zu einer Art rückwirkendem Eigenleben, durch Punkte und manches Mal durch neue Zeilen mit Einrückungen getrennt. Trotz aller realen Hinweise ist es eine lyrische Prosa, wodurch die Inhalte bewusst poetisch »verfremdet« werden als Aufruf zum Philosophieren, das sich namentlich mit dem Erdreich des Empfindens (12), mit der Frequenz des Lebens, dem (be)schwingenden Atemzug (46), mit der Achtung vor der Natur, dem Numinosen als Quelle des Lebens (75) befasst.
Trotz der zahlreichen weltumspannenden Bezüge bildet das Cover einen Ausschnitt (das linke Bilddrittel) aus Raffaels Frühwerk, der »Verkündigung an Maria«, ab: Der Engel, der aus einer Säulenhalle tritt auf einen Boden, der gestreift in einen weiten Landschaftsausschnitt führt. Der dazu gehörige Textbeitrag steht nicht ganz in der Mitte des Buchs, ist aber offensichtlich doch zentral verstanden: nicht nur in der Durchlässigkeit der Grenzen, nicht nur durch das verhalten Feinsinnige, auch durch die Lilie als Blüte des Himmels – die sich gedanklich verbindet mit Blumen anderer Religionen, wie sie auf der Außenrückseite genannt werden (Ein Blütenkranz geflochten aus Lilien der Erkenntnis, Herzrosen, verträumten Veilchen, Lotosblumen, blauem Mohn und dem duftenden Jasmin der Poesie) und nicht nur eine Brücke als Zeichen des Bundes zwischen Himmel und Erde schlägt, sondern auf den Hinter-Sinn des ganzen Buchs aufmerksam macht: auf die Verbindung der verschieden ausgeformten »Plätze« der letztlich einen Welt.
Auf ihnen tauchen wir ein in zum Teil nur scheinbar alltägliche Situationen (wie ein »Sommerabend« [16-19]), die jedoch erfüllt sind von einem geistigen Raunen, von buchstäblich belebenden Gedanken, von aufsteigenden Hinweisen auf ein Mehr-als-nur-Dies. Das Hinauswachsen illustrieren andere Beiträge intensiver: ein Sich-Versenken in indische Gotteswelt, in ostasiatische Lebensweisheiten, in islamische Visionen. Ein dritter Teil befasst sich mit konkreteren Themen: Bild-, genauer: fünf Pinselstrich-Interpretationen (33-45) als Dialog mit der verborgene(n) Dimension des Seins; Tiere (82, 86-90), die Geschwister der Menschen, die als Begleiter des Alltags aber ebenso von Heiligen und Göttern zu Herzgefährten auf dem Weg ins Glück werden. Ein besonderes Kapitel dünkt mich der »Weltenraum« (74-78), denn er wird zu einer Art von tour d’horizon der von der Autorin erlebten geographischen Erfahrungen: Weltmeer, Tibet, Amazonas, Wüste, indische Tiefebene, Maya-Orte, Reisen, die auf den Flügeln der Gedanken (…) die hauchfeine Grenze überschreiten, die auf den Flügeln des Bewusstseins (…) ins Zentrum des eigenen Seins führen. Nicht von ungefähr kommt (mir) als musikalische Parallele Mendelssohns »Auf den Flügeln des Gesangs« in den Sinn, denn Dorothea Nürnberg findet – nicht nur hier – singende Worte für eine entdichtete Welt (43), eine Welt der Übersinne, für das die Gegensätze ertragende Betrachten einer erahnten Fülle der Spuren der Ewigkeit. In den Worten der Autorin bestehen die »Augenblicke des Glücks« (65, 66) aus dem Übergang von rhythmischer Bewegung (Tanz, nicht zuletzt als ein Tanz des Lichts – Vollendete Schönheit [71]) hinein in lautloses Gleiten, während Herzflammenfeuer im Sog der Musik aufkommt.
Der schmale Band stellt eigentlich weniger ein Büchlein zum Lesen dar, sondern eher eine Aufforderung zum Nach-Denken. Und er wurde, nach ihrem vorzeitigen Tod im vergangenen Jahr, als letzte Publikation wie eine Art Summe ihrer Erlebnisse, ihrer Erkenntnisse, ihrer Vertrautheiten auch eine Art Vermächtnis der Autorin. Vor diesem Hintergrund mögen die letzten Zeilen des Buchs auch als Trost verstanden werden: So erwacht Dein Sehnen / in mir / so verklingt mein Leiden / in Dir.
Martin Stankowski (2023)