Rezension
Claudia Taller
Ich habe gesehen
Erzählungen.
Verlag am Rande, Sipbachzell 2019, 176 Seiten.
ISBN 978-3-903190-21-4
Die titelgebende Erzählung „Ich habe gesehen“ beschäftigt sich thematisch eher mit „Ich habe gehört“, denn es geht in dieser um eine Bratschistin, die nach einem Auftritt in der Londoner Albert Hall in eine Gliederstarre verfällt, die eine Fortsetzung ihrer Karriere nicht mehr möglich erscheinen lässt. Die Autorin bedient sich dabei einer spannungsgeladenen Erzählform, die die LeserInnen lange im Unklaren darüber lässt, worum es sich bei diesem Text überhaupt handelt. Allmählich enthüllt sich die Tragik der Protagonistin, die in ihrem Leben mit aller Gewalt - auch sich selbst gegenüber - etwas erreichen wollte, was eigentlich jenseits ihrer Möglichkeiten lag. Doch in einem Augenblick, eben bei jenem Konzert in der Albert Hall, hatte sie ihr Lebensziel, dem sie alles untergeordnet hatte, erreicht. Und dieses Ziel markiert zugleich ein Ende, das nicht tragischer sein könnte.
Die zweite Erzählung „Such mich nicht – ich bin in deinem Kopf“ ist eher ein Kammerspiel, in dem die beiden Protagonisten eine Art virtuellen Kleinkrieg betreiben. Tamara, eine gelernte Masseuse, die danach Jus studiert hat, und Frederic, ein Designer, arbeiten sich an ihrer lange zurückliegenden Beziehung ab, aus der sich ein verspäteter Rosenkrieg entwickelt, den keiner der beiden gewinnen kann. Vielmehr verzetteln sie sich in Nebensächlichkeiten, die die Ursachen ihres Konfliktes immer mehr in den Hintergrund treten lassen. Beiden wird dabei klar, dass sie für jede weitere Beschäftigung mit der Causa den Preis selber bezahlen müssen, sodass das ursprüngliche angestrebte Ziel, sich am anderen zu rächen, in einem resignierenden weil unbeantwortbaren Wozu? mündet.
„So habe ich es nicht gewollt“ ist der Titel des dritten Textes. Dieser erzählt stringent aus der Perspektive einer Frau die von ihr angestrebte Ehe, der ein Sohn entspringt, schließlich aber an einem Geheimnis des Mannes zerbricht, wobei dieses Geheimnis weitgehend unaufgeklärt bleibt bzw. sich als mögliche Kopfgeburt der Beteiligten erweist.
„Warum hast du es nicht gleich gesagt“ ist der Versuch, die Sprachlosigkeit eines in ihrer Kindheit missbrauchten vierzehnjährigen Mädchens im Dialog mit einer helfen wollenden aber letztlich hilflosen Umwelt darzustellen. Das gelingt in einigen Passagen mit beklemmender Intensität, auch wenn manches für ein Mädchen dieses Alters ein wenig zu reflektiert klingt.
Die drei letzten Texte sind formal keine Erzählungen, wohl auch keine Kurzgeschichten, sondern eher scherenschnittartige Episoden. „Scham“ thematisiert abermals einen Missbrauch, in diesem Fall einer jungen Tänzerin durch ihre Trainerin, wobei die titelgebende Emotion ein wenig Hoffnung auf eine erfolgreiche Bewältigung gibt. „Heuer kommt der Sommer nicht“ ist der Versuch, der Sprach- und Hilflosigkeit angesichts einer Totgeburt in einer daran zerbrechenden Beziehung aus der Sicht der Ehepartner Ausdruck zu verleihen. Entlang der unterschiedlichen und letztlich untauglichen Bewältigungsversuche der beiden wird die Unvorstellbarkeit eines solchen Ereignisses sichtbar. „Sag nicht, wohin du gehst“ schließlich ist die aus der Sicht des Sohnes geschilderte Freitodbegleitung einer 88-jährigen Frau in die Schweiz, die nach der anfänglichen hochemotionalen Betroffenheit in eine äußerst nüchterne Beschreibung der Abläufe mündet. Auch nach diesem kurzen Text bleibt man als Leserin bzw. Leser angesichts einer konkreten Unvorstellbarkeit einer solchen Episode ratlos zurück.
Den vier echten Erzählungen gemeinsam ist das Scheitern an großen Träumen, die retrospektiv betrachtet von Beginn an dazu verurteilt waren, Illusionen zu bleiben. Es geht dabei immer auch um Beziehungen, wobei manche Protagonisten solche mit der mehr oder minder eingestandenen Hoffnung eingehen, dass diese die mit den Träumen verbundenen und verdrängten Probleme lösen könnten. Oft spielen generationelle Verstrickungen aus der Herkunftsfamilie eine Rolle, aber auch eine Art von Kontrollzwang, das Leben, sich und die anderen in den Griff zu bekommen.
Viele Protagonisten zeichnet dabei eine Sprachlosigkeit aus, die sinnbildlich für deren Unfähigkeit zur „wahren“ Liebe steht. Der Autorin gelingt es dabei, dieser Sprachlosigkeit Worte zu geben, die bei der Lektüre berühren und betroffen machen.
Irritierend ist dabei, dass die Erzählungen so wenig Hoffnung zulassen, die man sich für manche handelnden Personen so sehr wünschen würde. Man möchte der Autorin am Ende der Erzählungen zurufen, dass das Leben für die ProtagonistInnen wenn schon kein Happy End so doch wenigstens eine Versöhnung bereithalten möge.
Rezensent: Werner Stangl