Rezension
Linda Kreiss
Irgendwann falle ich aus der Zeit
Miniaturen aus Indien und Nepal.
Edition Melos 2023, 92 Seiten
ISBN 978-3-9505384-8-9
Mit diesem Buch kehrt die Autorin in eine Weltgegend zurück, die ihr von früher her vertraut ist, hat sie doch viele Jahre in Nepal verbracht, als Mitarbeiterin des Goethe-Instituts von Kathmandu. Nepalesische Impressionen versammelt denn auch einer der drei Abschnitte dieses streng topographisch gegliederten Bandes; die anderen beiden führen nach Goa und Varanasi. Was an allen dreien gleichermaßen besticht und beeindruckt, ist der Mut der Autorin, auf jegliche Stilisierung zu verzichten, die Dinge die Dinge sein zu lassen und sie bei ihren Namen zu nennen, frank und frei festzuhalten, was sie sieht, hört, riecht, schmeckt, auf der Haut spürt, mit allen Poren aufnimmt, erfährt und erlebt, und aus einfachen Aussagesätzen Verse zu formen, immer in dem Bewusstsein, dass bei allen bleibenden Eindrücken von den Begegnungen unterwegs auch etwas bleibt, „das ich nicht beschreiben kann / da es so tief in meinem Inneren verborgen liegt und doch / ein großer Teil von mir zu sein scheint“.
Seite für Seite, Gedicht für Gedicht entstehen Bilder von Städten und Menschen, vom Alltag und von Festtagen, Postkarten, die allerdings nicht nur schöne, pittoreske Ansichten zeigen, sondern auch den Schmutz und die Armut, den Dunstschleier der Großstadt, der die Sonne verhängt, den „schwimmenden Teppich / aus PET-Flaschen“ am Ufer des Ganges, das „fleckigalte Zeitungspapier / gespannt auf einen selbst gebastelten Holzrahmen“, den in Goa ein Schuljunge als Drachen steigen lässt. Kein distanzierter Blick herrscht hier vor, sondern eine große Anteilnahme, ein völliges Aufgehen in der Fülle der Begebenheiten zwischen Himmel, Erde und Meer.
Alle diese Bilder ergeben in Summe ein lyrisches Logbuch, das mit der Erfahrung schließt, wie schwer es ist, aus dieser Welt wieder zurückzukehren in das vertraute Geleise des Alltags:
„Zurück von der langen Reise / birgt die Zeit eine neue Qualität in sich / die Stunden vergehen jetzt langsamer / die Minuten nehmen mehr Raum ein“
Es bleibt zu hoffen, dass Linda Kreiss bald wieder aufbrechen wird, zu nahen oder zu ähnlich fernen Destinationen wie jenen, von denen hier die Rede ist, und uns noch viele Bilder malen wird von den Eindrücken aus dem großen, breiten Zeitstrom abseits der durchgetakteten Tage und abseits der Terminkalender, die uns regieren.
Christian Teissl (2024)