Rezension
J. Rodolfo Wilcock
Italienisches Liederbuch
Ausgewählte Gedichte. Übersetzt von Hans Raimund.
Löcker Verlag 2023, 164 Seiten
ISBN 978-3-99098-170-2
Empfehlung ab Seite 52
J. Rodolfo Wilcocks Lyrik beginnt professorenhaft, wird aber bald zum Vergnügen.
Wenn man, wovon ich abrate, diesen Band von vorne bis hinten durchliest, weiß man nach den ersten Zeilen: Hier schreibt ein konservativer Autor. In 22 Zeilen treten auf: Goethe, Mozart, Herkules, Andromeda, Gilgamesch, Domenico Fontana sowie ein Thyrseus (Thyrsusstab) und ein Leopardenfell als Attribute des Bacchus. Dazu kommen Tamur Azda und Bodazar, zwei Namen, die einen ratlos zurücklassen. Tamur kenne ich als Lautenform, von der sich Namen wie Tambur, Tanbura oder Tamburica ableiten. Die Kombination „Tamur Azda“ findet Google genau zwei Mal auf Hunderten von Milliaden Webseiten – beide Male in eben diesem Gedicht.
Mit der Zeile „Kämen die Barbaren doch bald“ beginnt das nächste Gedicht, und als Leser von Kavafis weiß man, dass sie tatsächlich nicht erscheinen. Somit sind sie auch keine Lösung für einen „König in Estoril“ (den Kurzzeitkönig Umberto II., verrät mir eine Geschichte Italiens). Im vierten Text stoße ich endlich auf die vertrauteren Absinthtrinker Rimbaud und Verlaine und die interessante Metapher „keusch wie das Ende der Welt“ (bei Johannes geht es bekanntlich durchaus deftig zu). Den Sinn des Namedroppings von Marx, Paine und Nobel verstehe ich jedoch nicht. Ich stelle mir vor, wie Nicanor Parra, fünf Jahre und 1500 km entfernt geboren, dagegen gewettert hätte, blättere energisch weiter – und stoße auf Unerwartetes.
Andere Töne und Bilder statt Bildungsgut tauchen auf der Seite 52 auf: „Jeden Abend würde ich ein Blutbad anrichten / unter den Tugendbolden und Schönrednern, / um danach durch die Fenster einzusteigen / mich auszustrecken auf den nackten Mädchen.“ Gleich darauf gibt sich der Autor den Rat: „Verwerfen wir die Einfachheit (…) // Nehmen wir der Verführung / des allzu geordneten Denkens / den Wind aus den Segeln“. Das ist ja für einen italienischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – und als solcher ist der aus Argentinien stammende Wilcock unbedingt zu betrachten – keine schlechte Maxime. Man denke an Italo Calvino, Dino Buzzati und Pier Paolo Pasolini, der Wilcock 1964 in seiner Verfilmung des Matthäusevangeliums als den Hohepriester Kaiphas besetzte. Kaum hat man sich an die skeptische bis sarkastische Haltung wie in den Überlegungen zum „Körper des Menschen“ gewöhnt, beginnt der titelgebende Zyklus von Liebesgedichten, ein Canzoniere also, der die Hälfte des Buches einnimmt.
Wieder zeigt sich der Autor von einer anderen Seite. Es geht um die Liebe, aber sie muss nicht immer allumfassend, dunkel, vielleicht sogar tragisch sein: „Vor dir öffnet staunend sich die Menge / fallen von den Häusern die Wasserkübel / der Fensterputzer“ – so leichtfüßig ist selten jemand in der Nachfolge Petrarcas unterwegs. Eine Mischung aus buddhistischer und erotischer Fröhlichkeit quillt aus diesen Gedichten, ein Trotzdem ohne Pathos: „Wach auf, die Welt ist schrecklich, aber was soll‘s, / in dir drinnen unterliegt sie einer Umkehr / wenn du sie offenen Auges so anziehend machst, / wach auf, mein Reiniger Geist.“
Beeindruckend ist bei all dem die Leistung des Übersetzers, der die weit auseinanderliegenden Tonlagen Wilcocks erfolgreich rekonstruiert. Manchmal verzichtet er darauf, die Fülle der Klangmittel in ein Korsett zu pressen. Statt brav und klappernd sämtliche Reime eines Sonetts zu rekonstruieren, holt er die Stimmung in die deutsche Fassung. Mit seinem Nachwort bringt er uns schließlich die Biographie des hierzulande kaum bekannten Dichters näher.
Gerald Jatzek (2024)