Rezension
Hilde und Richard Langthaler
Kerbungen
Schwarze Texte und Holzschnitte
Mit einem Vorwort von Susanne Ayoub
Promedia Verlag, Wien 2021, 88 Seiten
ISBN 978-3-85371-495-9
Nach dem Tod von Hilde Langthaler am 22. Jänner 2019 sichtete ihr Mann Richard zwei Jahre lang Hildes literarischen Nachlass, manches musste er aus der Handschrift transkribieren. Das nun vorliegende Ergebnis trägt den Titel „Kerbungen“: Vierzig Texte, bezeichnet als „schwarze Texte“ – einerseits Gedichte, manche fast wie Haikus, andererseits kurze Prosastücke –, treten in einen illustrativen Dialog mit jeweils einem Holzschnitt von Richard Langthaler, der außerdem die Auswahl besorgt hat. Aufgrund seiner umfassenden Kenntnisse des Werks versammelt das Buch einen repräsentativen Querschnitt aus dem achtzigjährigen Leben und Schreiben der Autorin, die sich niemals auf einen Roman eingelassen hatte. Susanne Ayoub schreibt in ihrem Vorwort: Ich fragte sie, ob sie auch einmal längere Erzählungen machen wollte oder immer die kurze literarische Form bevorzugte. Sie erwiderte, dass sie nie genug Zeit für einen Roman gehabt habe. Und fügte dann in der ihr eigenen Selbstironie hinzu: ‚Vielleicht fällt mir auch nichts Langes ein.‘ (Seite 3)
Was wenig verwundern mag, nach einem Studium der Medizin, einem Gaststudium an der Filmakademie sowie mehreren Semestern Soziologie, Politikwissenschaft und Publizistik, einer Entwicklungszusammenarbeit in Afrika mit ihrem Mann sowie Hildes Einsatz in der Friedens-, Ökologie- und sogenannten Dritte-Welt-Bewegung. Als Mitbegründerin des Wiener Frauenverlags sowie als Autorin von „Nur keine Tochter“ etablierte sich Hilde Langthaler Anfang der 1980er Jahre auf der „literarischen Bühne“.
Nur auf Reisen fiel ihr das Dichten leicht, konstatiert Susanne Ayoub, und so sind die meisten Bücher nach Urlauben entstanden, am Strand, in den Bergen oder beim Langlaufen. (Seite 3)
Wie sehr Langthaler eine politisch engagierte Frau war, vermitteln auch ihre Gedichte; keinesfalls scheut sie sich, Missstände beim Namen zu nennen (Seite 76):
wer hat anspruch auf rechtsstaatlichkeit
auf eine bürgerliche existenz
auf objektive berichterstattung
auf beiziehung eines anwalts
von der ersten einvernahme an
(…)
– das hängt offenbar von der hautfarbe ab –
heute in österreich – unserem land
(…)
Gleichermaßen finden ihre afrikanischen Erfahrungen und Erlebnisse Eingang in ihre Dichtung:
los der afrikanischen frau
das schicksal der mit schwarzer haut geborenen frau ist hart. jeden morgen sieht man die straßenränder eingesäumt mit zum markt wandernden frauen, kinder auf den schultern und körbe auf dem rücken – gefüllt mit maniok, mais, süßkartoffeln und bananen oder bündel mit zuckerrohr, holz oder tonkrügen – eine last von 40 – 60 kg. (…)
als wir den vertreter der katholischen pfarre fragten, warum denn keine ochsen, die in großer zahl herumlaufen, zum tragen verwendet würden, sagte er ohne bedenken: was hätten dann noch unsere frauen zu tun? (Seite 50)
In dem Gedicht „ADRIA 1993 – Sarajewo“ thematisiert sie ihre Unruhe und die Hilflosigkeit angesichts des Kriegs in Jugoslawien. Ein Badestrand am Meer, und zugleich fallen Bomben auf Sarajevo. warum diese unruhe, / bei all der herrlichkeit des meeres und der sonne? (…) bin ich ungehorsam, / füge mich nicht in den badebetrieb? / die angst vor strafe sitzt mir im genick (…) bin ich eine antenne für das, was um mich vorgeht? / eine antenne, die schwingt, die zittert und bebt. (Seite 6)
Wie eine Antenne reagiert das lyrische Ich, ersehnt ein Miteinander beim einsamen Überschreiten einer Brücke (Seite 8), wird oftmals von Angst gepeinigt (Seite 12), beklagt die Brutpflege: die brutpflege – wie in der tierwelt. / so viel kraft in die brutpflege. / ob die, die das verweigern, / nicht das bessere teil erwählt haben – nicht gescheiter sind. / was man alles tut, damit die menschheit nicht ausstirbt / oder seine gene weitergegeben werden … Sodann die unabwendbare Resignation: aber der tod wartet – / was ist noch zu tun? / schnell noch zu tun? / (oder ist eh alles wurscht). (Seite 20) Demgegenüber Gedichte, die von einem tiefen Gefühl Zeugnis ablegen, wie die Geburt eines Kindes, dem Zärtlichkeit und Vertrauen vermittelt werden muss, ein Beispiel dafür ist „menschwerdung“ (Seite 54).
millionen antennen
millionen antennen
in schwingung und schwebung
destilliert und gefiltert
gespiegelt gerastert und vielmals gebrochen
zu bildern geronnen
oszilliert auf der netzhaut (Seite 56)
Dem gegenüber steht die ständige Hetzjagd nach dem Glück, nach der Liebe, was ist das – die liebe? (Seite 74), ein sehr intensives Gedicht über die Liebe im fortgeschrittenen Alter, die Jugend und Schönheit überdauert, indem das Ich auf den Partner wartet und sich über sein Kommen freut. Doch immer wieder machen sich Rückschläge breit, Furcht vor der Zukunft attackiert das Ich zwischen Geburt und Tod: durch das labyrinth der zeit einen weg [finden,] angst – kosmische einsamkeit wird ausbrechen, irrwege, labyrinthe; keine wegweiser, niemand, der den weg vorausgeht, ich als erste voran – auf dem weg in die zukunft. die vorhut ist gefallen – ich bin die vorhut … (Seite 26). Wiederum peinigt ein schlechtes Gewissen, denn liegengebliebenes türmt sich auf (Seite 48).
von fäden gezogen
von fäden gezogen.
in normen geschnürt.
marionetten. hastend
vom heute ins morgen.
Zwei Gedichte stilisieren das Leben zum Hamsterrad (Seite 38), zu einem Treten und Treten und Nicht-vom-Fleck-Kommen, ohne Möglichkeit zu entkommen, dennoch vom Hamsterrad abhängig sein; oder vom Mühlenrad (Seite 40), das den Kopf beherrscht, chaos bei tag, panik bei nacht. (…) tief ins gehirn gekerbt. Manche Texte erinnern an Träume, mein Favorit ist meine leiche unter den arm geklemmt (Seite 52), plötzlich gleicht die Leiche einer Schaufensterpuppe und muss gereinigt werden, wobei sie leise zu atmen beginnt, allerdings hängt sie an einer Wäscheleine mit dem Kopf nach unten. – Dann wiederum schleppt eine Raupe ihre Mutterraupe auf dem Rücken (Seite 36). Rastlos wird die Zeit gejagt, permanent herrscht Stress, moniert die Autorin. „Langsamer und bedächtiger“ wäre die optimale Losung für die Menschheit!
wir kommen aus der ewigkeit
wir kommen aus der ewigkeit
wir gehen in die ewigkeit
und in der kurzen zeit dazwischen …
schauen wir ständig auf die uhr (Seite 80)
Es ist ein Jammer, dass Hilde Langthaler die Veröffentlichung dieses Buches nicht mehr erlebt hat.
Manfred Chobot