Rezension
Maria Lehner
Krumme Eiche bis Unteres Feld
Erzählbrücken
Wieser Verlag 2023, 200 Seiten
ISBN 978-3-99029-575-5
Eine Erzählbrücke – was mag das sein? Ich hatte dieses Wort noch nie gehört, bis ich es auf dem Cover dieses Buches fand, mit dem Maria Dippelreiter nach einer langen Reihe wissenschaftlicher Publikationen, Sammel- und Tagungsbänden zumal, unter ihrem Nom de Plume Maria Lehner im Frühjahr 2023 ihren belletristischen Erstling vorgelegt hat. Das Buch enthält knapp zwei Dutzend kurzer Prosaarbeiten; manches davon ist im Protokollstil verfasst, manches anekdotenhaft verknappt und pointiert, manches hat den leichten Schritt und Schwung eines Großstadt-Feuilletons, wieder anderes die Anmutung einer Kalendergeschichte, die in nüchtern objektivem Ton von unerhörten Dingen berichtet: von seltsamen Charakteren und tragischen Schicksalen, von all den gewöhnlichen und außergewöhnlichen Schrecken, die sich am helllichten Tage ereignen.
Dazwischen eingestreut finden sich ein Dramolett („Systemische Therapie“), fiktive Reportagen, moderne Märchen und Großstadtlegenden. Sie alle verbindet eines: der Schauplatz Wien und ihre Neigung, in der realen Wiener Topografie anzusetzen und im Handumdrehen – hast-du-nicht-gesehen – in eine andere, imaginäre Landschaft, ja mehr noch: eine andere Dimension überzuwechseln, in ein Paralleluniversum, eine Welt hinter dem Spiegel. Das Wien, in das uns Maria Lehner führt, ist genau jenes Wien, in dem – wohl nicht zufällig – die Malerei des Phantastische Realismus entstand, Bilder wie das berühmte Gemälde „Die Arche des Odysseus“ von Rudolf Hausner, das durch seine vexierbildhafte Optik verschiedene Zeiten und Räume übereinanderlegt und ineinander verschränkt: Da kreisen Sonnen und Monde rund um ein im Leeren schwebendes steinernes Schiff; Odysseus trägt eine Matrosenmütze, hat eine Glaskugel in der Hand, die ihm seine Vergangenheit zeigt, und blickt uns fragend an; hinter ihm taucht über den Irrgärten Wiens die Kuppel der Karlskirche auf, und in weiter Ferne erscheint am Horizont ein Ozeandampfer. Genau die Atmosphäre, die dieses berühmte Gemälde aus der Nachkriegszeit vermittelt – hyperrealistisch im Detail, albtraumhaft bizarr und surreal im Ganzen –, atmen auch die allermeisten der vorliegenden Texte Maria Lehners, die sich – wie sich bei fortschreitender Lektüre zeigt – mit vollem Recht „Erzählbrücken“ nennen, helfen sie uns doch überzusetzen vom Immer-schon-Gedachten ins Undenkbare, vom Immer-schon-Geahnten ins Ungeahnte, von der messbaren Zeit der Uhren und Terminkalender auf jenen Planeten Senzaconfini, an dem die Utopie einer Welt ohne Grenzen die gegebene Wirklichkeit ist, wo Exzentriker aller Länder und Epochen einander begegnen, um sich selbst und der Welt für immer abhandenzukommen, und wo kein Begriff definiert wird („Alles kann ein Zitronenfalter sein. Oder ein Betonmischer. Oder ein Renaissanceportal“). Auf diesen Erzählbrücken kann alles geschehen: An allen Ecken und Enden tauchen Mischwesen auf; in einem steckengebliebenen Fahrstuhl erzählen Drachen oder jedenfalls Leute, die aufgrund gewisser äußerer Merkmale für Drachen gehalten werden können, einander aus ihrem Leben, unterdessen führt der Gasthausphilosoph Nechwatal an einem hitzeflirrenden Hochsommertag im Gasthaus Nordpol die Kunst des Trink-Denkens vor, verwandelt sich eine Fleischhauerstochter wie weiland Daphne in einen Baum. Die Art und Weise, wie Maria Lehner Letzteres schildert, nein nicht schildert, sondern rapportiert, als wäre es x-beliebiger Wiener Hinterhoftratsch, als wäre weiter nichts dabei, zeigt, wie sehr sie im Erzählen aus mündlichen Traditionen schöpft, von den gesprochenen Worten ausgeht und sich von Redewendungen leiten lässt:
„Und dann sei es ziemlich rapide gegangen: die Unbeweglichkeit (‚wie angewurzelt‘) und oftmaliges Hinfallen (‚wie ein Holzklotz‘); die Haut sei hart und schuppig wie Borke geworden; das Haar sei ausgefallen und stattdessen seien durch die Kopfhaut kleine grüne Pickel gestoßen. Das Mädchen habe nur mehr liegen wollen. Möglichst viel Sonne und Luft habe sie sich gewünscht. Solang sie noch reden konnte. Schließlich aber sei sie taub und blind geworden. Ihre Finger, auch die Fingernägel, hätten sich in erschreckender Weise verändert; sie seien lang und spitz geworden wie Äste und hätten nach dem Licht getastet. Und viel Wasser habe sie gebraucht.
Das ‚Irgendwas‘ (‚Mädchen‘ konnte man den Pflock jetzt nicht mehr nennen) sei immer länger geworden und die zusammengewachsenen Beine hätten unten (bei den Fußsohlen und vor allem bei den Zehennägeln) Tentakel bekommen, die dem Boden zustrebten. Der erfahrene Arzt soll daraufhin gedrängt haben: ‚Sofort einpflanzen, sie wurzelt schon!‘“
Nach dieser starken Probe darf man gespannt sein, wohin Maria Lehner ihr Weg als Erzählerin, als Prosaautorin noch führen wird, in welche Räume und in welche Zeiten. Zu hoffen bleibt, dass es sie nicht auf den Planeten Senzaconfini verschlägt und sie uns noch lange nicht abhandenkommt.
Christian Teissl (2024)