Rezension
Irene Diwiak
Liebwies
Roman, Wien Deuticke 2017, 336 Seiten.
ISBN 978-3-55206-347-1
Der Roman spielt fast vollständig in den 1920er Jahren und «lebt» demgemäß von sozialen Unterschieden einer Lebensweise des einfachen Volks und einer gehobenen Mittelschicht. Der - durchaus anregende - Titel «Liebwies» bezieht sich einerseits eingangs auf ein völlig vergessenes Bauerndorf, in dem ein dorthin verschlagener Lehrer musikalische Talente aufspürt; andererseits wird er viel später Nachnamens-Synonym einer von dort stammender, gefeierter Sängerin namens Gisela. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: sie wird nämlich nur ihrer Schönheit wegen ausgewählt und vermag kaum zusammenhängend richtige Töne zu artikulieren. Dementsprechend komplex verläuft ihre anschließende Anwesenheit in der Großstadt. Ihr Entdecker, Witwer einer Operndiva, nimmt sie auf; immer mehr Gruppen treten hinzu: eine nur bedingt ihrem Thema huldigende Musikliebhabergruppe, ein heruntergekommenes privates Konservatorium, eine im Persönlichen etwas überkandidelte Unternehmerin, ein Möchtegern- sich vor allem selbst inszenierender Komponist, der die äußerlich blasse Unternehmertochter ehelicht. Einen gewissen Kulminationspunkt stellt die Uraufführung einer Oper (vom Tonkünstler, der sträflich heimliche Arbeiten seiner Gattin verwendet) dar, in der die «Gräfin der Stille» (verkörpert durch Gisela) eben fast nicht singt. Was immerhin einen - allerdings weitgehend flüchtigen - Ruhm mit sich bringt. Der auf Sand gebaute Erfolg führt zu neuerlicher Vereinzelung des Geschehens in Gruppierungen und Szenen, teilweise in geänderter personeller Kombination, teilweise mit weiteren Akteuren, verbunden mit neuerlichen scharfen Streiflichtern auf die Gesellschaft. Während seinerseits der Epilog einen alles andere als stringenten Zeitsprung zum Jahr 1943 beinhaltet, wohl einerseits, um in dunstiger Burleske die Vergänglichkeit von Größe zu illustrieren, andererseits - nachdem die Handelnden ganz dieselben blieben - wohl, um wenigstens kurz einem literarisch-modischen Aspekt Genüge zu tun.
Trotz weniger Kapitel («Teile») sind die darin alternierenden Handlungsstränge eher kurz; die strukturelle Anlage erinnert den Rezensenten an eine Drehbühne, die wegen des Wechsels ihres jeweils geänderten «Mobiliars» gewöhnungsbedürftige Plätze hintereinander reiht und mit noch nicht zuvor bekannten Schaustellern bestückt (demnach ein großes Ensemble benötigt), und in welcher meist nur gegen Ende der einzelnen Szenerien aus der Bühnentiefe der oder die eine Bekannte erscheint. Die strukturelle Abfolge bleibt auch insofern relevant, weil zum einen - ungeachtet einiger weniger Rückblenden - eine lineare Vorwärtserzählweise vorherrscht, zum anderen die Figuren über die ganze Länge des Stücks in ihrem einmal von der Autorin vorgegebenen Ist-Zustand verbleiben. Damit erscheint die Entwicklung der Erzählung in ihren immer neuen Anläufen letztlich als das Kind der vorgegebenen Konstruktion, eine Entwicklung, die, in diesem Sinn nachvollziehbar, wesentlich auf alleinigen Beobachtungen von «außen» beruht. Deren Gewicht wiederum führt zu mannigfachen Beschreibungen, in der Erklärungsabsicht oft detailreich im Detail und da und dort das Künstliche anstreifend. Dahinter steht - auch -, dass in gewisser Konsequenz ein inneres Erlebnis und (folgend) zwischenmenschliches Gespür weitgehend der Fantasie der Lesenden vorbehalten ist; die Figuren bleiben Figuren und kommen nicht zuletzt dadurch in ihrer Zeichnung aus den Klischees nicht ganz heraus. Stattdessen hält «man» sich bei Irene Diwiaks stetem Blick auf menschliche Eitelkeit und daraus entspringende Bösartigkeit an die reichliche Menge gerne überspitzter Perspektiven und an «allgemeine» Feststellungen, die, eingestreut, deutlich ambitioniert im Raum stehen bleiben (etwa … eine junge Frau, die, obwohl oder weil sie kaum las, moderne Literatur für schick und alle Schriftteller für Genies gehalten hatte 147), wenn sie stellenweise gar häufiger auftreten, wird es doch etwas mühsam.
«Liebwies» ist das Romandebüt der damaligen Mittzwanzigerin, die bereits vielfach Theater- und/oder literarische Erfahrungen mitsamt zahlreichen Förderungen buchstäblich von Jugend auf gesammelt hatte. Als Romanerstling besitzt er das Unbekümmerte des Anfangs in einem munter dahinfließenden Erzählrhythmus beim Vorstellen wechselnder Bilder, mit dem Mut zur schriftstellerischen Richtschnur, es müsse halt gerade so und nicht anders sein, mit der Nonchalance gezielter Schwarz-weiß-Zeichnung, mit der Lust zu eingehender Betrachtung, mit der Freude an auch ausführlichen Detaillierungen und mit der Suche nach einem einheitlichen Erzählstil. Aus dieser Perspektive treten literarische Schwächen zurück und man darf nach diesem noch nicht ganz in sich stimmigen Buch auf die weitere Entwicklung der Autorin gespannt sein.
Martin Stankowski