Rezension
Peter Paul Wiplinger
Lyrik. 1000 ausgewählte Gedichte. 1960 bis 2023
Löcker Verlag 2024, 654 Seiten
ISBN 978-3-99098-186-3
Zeitlos
Er weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Er weiß, worauf es im Leben wirklich ankommt. Und er weiß auch, dass literarische Worte womöglich ungehört verhallen. Aber damit wollte er sich nie abfinden: Er begehrte auf, wollte sich den Mund nicht verbieten lassen; mit seinen Texten, hauptsächlich Lyrik, brandmarkte er die Irrungen der Gesellschaft und ihre gewalttätigen Auswüchse, den Krieg, den Totalitarismus, die Ungerechtigkeit. Dieses Aufbegehren trägt einen Namen: Peter Paul Wiplinger.
Er, 1939 als jüngstes von zehn Kindern im oberösterreichischen Haslach geboren, wuchs die ersten Jahre seines Lebens amtlich in den »Donaugauen des Deutschen Reiches« auf, wurde von einem linientreuen Kindermädchen gepeinigt, das er im Gedicht KINDERERZIEHUNG (S. 574) auf die folgende Weise verewigte:
(…)
du fratz du elender nichtsnutz
du verdammter rotzbengel du
hast du nicht gehört was ich sage
wehleidigkeit kannst du dir sparen
aus dir mache ich auch noch einen
einen solchen wie die anderen sind
dann noch zwei saftige ohrfeigen
als wortlose brennende draufgabe
ich aber schweige die ganze zeit
denke mir und male mir dabei aus
wenn ich einmal groß bin dann
bringe ich dieses naziweib um
Es gelang ihr nicht, ihn zu »einem solchen« zu machen, doch sie trug dazu bei, dass der Heranwachsende die herrschende Ideologie und die sie ausführenden Menschen als gefährliche Bedrohung erkannte. Als er dann, im Alter von siebzehn, von den Konzentrationslagern und den millionenfachen Morden erfuhr, keimte ob des Entsetzens eine literarische Grundeinstellung: Nicht der kunstvoll geschmiedete Vers sollte im Vordergrund stehen, nicht das intellektuelle Spiel mit der Sprache und nicht hermetisch verkapselte Bedeutungsassoziationen; er wollte ansprechen, was andere ignorierten, sichtbar machen, was andere negierten. Dem im Österreich der Nachkriegsjahre so charakteristischen Schweigen setzte er sein entschiedenes Wort entgegen. Dazu AN EUCH AUSGELÖSCHTE (S. 231):
euch alle
jeden von euch
möchte ich zurückholen
aus dem schweigen
ins wort
ins lebendige dasein
dem grauen
den eintritt verwehren
in unser leben
ins nächste jahrhundert
gemeinsam eine mauer bilden
gegen jede art von zerstörung
den haß vielleicht
mit liebe löschen
und kämpfen mit euch
gegen den wahnsinn der welt
Mit »Lyrik. 1000 ausgewählte Gedichte. 1960 bis 2023« erschien ein ziemlich dickes Buch. Es enthält etwa ein Sechstel von Wiplingers Lyrikwerk, und darunter befinden sich auch Gedichte, die bisher noch in keinem anderen Buch abgedruckt waren. Gekennzeichnet sind diese nicht, aber das spielt auch keine Rolle, denn »Lyrik« können und sollen wir als abgeschlossenes Werk lesen, als eine zeitlose Anthologie, die uns nicht nur, wie Franz Kafka einmal schrieb, »mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt«, sondern auch den Autor Peter Paul Wiplinger näherbringt.
Dieses Buch enthält politische und gesellschaftskritische Texte, wie sie bereits Dutzende seiner Bände füllen, aber auch sehr persönliche Texte. Dazu zählt etwa eine ganze Reihe von Liebesgedichten, von denen viele bloß die Überschrift LIEBESGEDICHT tragen, also eigentlich gar keinen echten Titel aufweisen. 1989 erschien im Grasl-Verlag der Band »HERZSCHLÄGE« mit Liebesgedichten; auch darin finden sich keine Titel. Die meisten Liebesgedichte sind kurz, enthalten schlichte, gefühlvolle Bilder und sprechen oftmals die Fragilität der Liebe an.
unserer worte
flügelschlag
unser schweigen
ein schattenreich
unsere berührung
stillstand der zeit
DU (S. 123)
du bist gedanke
letztes bild
du bist ein leuchten
spät und mild
du bist ein abschied
Die beiden obigen Gedichte, das erste ohne eigenen Titel, wurden 1980 geschrieben. Die zeitliche Einordnung ist möglich, weil unter jedem Gedicht im Buch ein Datum steht; entweder ein Tagesdatum oder Monat und Jahr – ein Merkmal, das auch die meisten anderen Lyrikbände kennzeichnet.
Ebenso persönlich sind jene Texte, die sich um Familienmitglieder drehen, allen voran die Geschwister, sowie um Freundschaften und Kolleg*innen. ERINNERUNG AN DICH (S. 414) schrieb Wiplinger zum Gedenken an Alois Hergouth, DEIN STERBEN (S. 220) ist eine gefühlvoll-schmerzliche Erinnerung an die Mutter, bei FÜR MEINE TOTEN BRÜDER (S. 104) spricht der Titel für sich selbst. In BRIEF AN DICH (S. 276) von 1989 ist abermals von einem Grab die Rede, doch ohne profunde Kenntnisse vom persönlichen Umfeld des Autors lassen sich diese Zeilen wohl nicht entschlüsseln; was auf die Leser*innen allerdings überspringt, ist die tief empfundene Emotionalität dieser Zeilen. Überhaupt handeln solche Gedichte in erster Linie vom Sterben, von Trauer und von Verlust; Texte über die Lebenden packte Wiplinger indessen in den Prosaband »Schriftstellerbegegnungen« (2010), der sich fast wie ein Autorenlexikon liest. In DAS BIN ICH (S. 560) finden sich die folgenden Zeilen:
(…)
ich bin jener
der mozart-musik liebt
ich bin jener
der mit dir seit 40 jahren lebt
ich bin jener
der nicht mehr an gott glaubt
(…)
ich bin jener
der leidenschaftlich gerne lebt
ich bin jener
dem der abschied sehr wehtut
ich bin jener
der sich in der stille wiederfindet
(…)
ich bin jener
der am liebsten einfach nur so dahinleben möchte
ich bin jener
der aber weiß daß das
einmal sein ende haben wird
Manche Begriffe kommen wiederholt vor, begleiten die Verse treu durch die Jahre. Dazu gehören der Abschied, das Ende und natürlich der Tod – verständlicherweise gehäuft im vergangenen Jahrzehnt, doch auch in den frühen Gedichten, aus den Sechziger- und Siebzigerjahren ist bereits die Rede davon. Und dann gibt es das Niemandsland, das nirgendwo präzisiert wird; einerseits ist es wohl in konkreter Bedeutung an der Grenze zur kommunistischen Tschechoslowakei in unmittelbarer Nähe von Wiplingers Geburts- und Kindheitsgemeinde zu verorten, andererseits strahlt dieses Wort ein geradezu mystisches Flair aus. Die REISE INS NIEMANDSLAND (S. 110) trägt den Begriff schon im Titel, doch so manches Liebesgedicht nimmt ebenso darauf Bezug (S. 111):
ich suche dich
im morgenlicht
ich suche dich
bei den schatten
ich suche dich
im abendrot
ich suche dich
nahe am abgrund
ich suche dich
im niemandsland
Je länger wir uns mit den Gedichten in diesem Buch auseinandersetzen, desto deutlicher kommt die »lyrische Seite« zum Vorschein, wird fühlbar auch dort, wo das Thema sehr ernst oder tragisch ist. Als Stimmungsgedicht in diesem Sinne mag ABEND IN WIEN (S. 295) aus dem Jahr 1990 dienen:
matte schatten
an den mauern
ein streifen licht
am fernen horizont
die türme der kirchen
ragen in den himmel
licht in den fenstern
umliegender häuser
der schrei einer amsel
verliert sich im wind
Als zweites Beispiel, bei dem es Leser*innen womöglich den Atem verschlägt, weil die tödliche Krankheit hier eine eminente Rolle spielt, möchte ich EIN SCHÖNER TAG (S. 578) von 2021 zitieren:
Ein wolkenloser Himmel,
strahlende Morgensonne.
Heute wird ein schöner Tag,
sagst du und lächelst mich an.
Ja, sage ich, heute wird
wieder ein herrlicher Tag.
Und ich lächle zurück
und nehme mir fest vor,
heute nicht an den Krebs
zu denken und nur zu leben.
Die hier verwendete Großschreibung und Zeichensetzung taucht in den späten Gedichten wieder häufiger auf als früher. Vielleicht geht es Wiplinger darum, die Sätze auf diese Weise deutlicher zu strukturieren. Sehr geschickt ist in diesem Text das Enjambement gesetzt, das von der vierten in die fünfte und letzte Strophe überleitet, während die Strophen darüber jeweils mit einem Punkt enden. Diese Technik verfehlt nicht ihre Wirkung.
Während in den jüngsten Publikationen des Autors, wie Ausklang (2021), Einschnitte (2022) oder Feuerzeichen (2023), die Empörung über die jüngsten Kriege, der Zorn auf die Gewissenlosigkeit der Menschen und die Verzweiflung an der Krebserkrankung definitiv im Mittelpunkt stehen, überwiegt für mein Empfinden in der vorliegenden Anthologie das Lyrische, das Persönliche, das positiv Emotionale. Vielleicht ist das eines der persönlichsten Bücher von Peter Paul Wiplinger, das nicht nur das jahrzehntelange gesellschaftspolitische Engagement, sondern auch die durch und durch menschliche Seite des Dichters ins Rampenlicht rückt.
ROM (S. 454)
Das Licht an den Mauern.
Das Leuchten in mir.
»Lyrik« erschien, wie viele Werke Wiplingers, im Löcker Verlag. Es ist broschiert und mit seinen 24x15,50 cm wie ein größeres Hardcover dimensioniert. Das Buch enthält Geleitworte von Marianne Gruber, Helmuth A. Niederle und Gerhard Ruiss – sie alle sind jahrelange Weggefährten und wichtige Säulen der österreichischen Literaturszene. Ihre Beiträge runden das in mehrerlei Bedeutung gewichtige Buch wunderbar ab. Eine erschöpfende Besprechung dessen ist bei der Fülle von tausend Gedichten gar nicht möglich; und das ist gut so, denn Rezensionen dürfen niemals die Lektüre ersetzen.
Eine versteckte Anspielung auf Kafkas Sentenz vom gefrorenen Meer in uns, dessen Axt das Buch sein muss, eine Ansprache an sich selbst im Angesicht der lebensbedrohlichen Erkrankung und der wiederkehrende Bezug auf das mythische Niemandsland – das ist das letzte und abschließende Gedicht aus dem Jahr 2022 in Peter Paul Wiplingers in mehrfacher Hinsicht zeitloser Lyrikanthologie; ein Gedicht, das sich wie ein wehmütiger Abschied liest. Es heißt HERBSTHERZ (S. 615):
herabfällt
der herbstschnee
ins gefrorene herz
längst schon hast du
alle brücken abgebrochen
was bleibt
ist nur die kalte nacht
und letzte einsamkeit
wirf ab
die goldenen flügel
denn es gibt keine reise
du schließt alle türen zu
und gehst schmerzlos
und lautlos hinaus
ins niemandsland
Klaus Ebner (2024)