Rezension
Helga Schicktanz
per Bus und Bahn mit Buch …
Mitteilungen von Lesereisen
Verlag Liber Libri 2024, 346 Seiten
ISBN 978-3-85481-057-5. 346 Seiten
Der Untertitel wäre noch zu ergänzen mit: Lesereisen zu Schulkindern; und/oder: im Wesentlichen in den Jahren 1982 bis 1985; und/oder: mit wenigen Ausnahmen in die österreichische Provinz im erweiterten Weichbild des Wiener Raums (mit den seltenen Ausnahmen Linz, Graz, Salzburg); und/oder: als Kommunikation mit dem etwa gleichaltrigen Grafiker Peter Stöger, also ebenfalls anfangs der vierzig. Diese zusätzlichen Angaben tragen eine Besprechung des Buchs ebenso wie die eigene und zeitweise ebenso eigenwillige Sprache. Es ist deshalb richtig, die Autorin häufig selbst sprechen zu lassen …
Meist handelt es sich um Briefe mit festem Datum, allerdings fast ausnahmslos unterwegs während der Fahrten geschrieben, damit nicht unbedingt in einem Stück, sondern je nach Situation auch als Annotationen zwischendurch bei Wartezeiten oder im Zugcoupé am selben Tag von kurzer Notiznatur. Letzteres nimmt in den späteren Monaten eindeutig zu, was mit dem überdeutlich gewordenen Gesprächscharakter zu tun hat … und damit mit dem Adressaten. Doch dazu später. Jedenfalls gilt in jedem Einzelfall: Doch wie immer chronologisch. Heißt das nicht zeitverständlich? (S. 174)
Inhaltlich dreht es sich um Erlebtes während der Reisen mit dem öffentlichen Verkehr, während der oft langen Fußwege, bei der Inspektion der Schulorte und ihrer Umgebung, im Beobachten während der Lesungen. Die zeitlichen Umstände, auf die die Autorin im Vorspann ausdrücklich aufmerksam macht, wie das Fehlen von Handy oder gar Smartphones, die fast unerlässlichen Wechsel von Bahn zu Bus oder von Bus zu Schusters Rappen oft über viele Kilometer hinweg und zusätzlich bei jedem Wind und Wetter, die notwendigen örtlichen Erkundigungen allein über angetroffene Ortsansässige oder gar Telefonzellen respektive -bücher – inzwischen ein Stück Zeitgeschichte, tempi passati (S. 8) – kurz, die nicht nur aus heutiger Sicht einfachen Lebensumstände fördern das genaue Hinschauen ebenso wie die Empfindlichkeit für Stimmungen ebenso wie das (oft rasche) Festhalten von Gedachtem und Gefühltem, dieses Stück(s) Leben im Monolog der Briefe (S. 8). Wobei man korrigieren möchte: beileibe kein „einfaches“ Selbstgespräch, sondern vielmehr ein erklärendes Sich-Aussprechen zu einem trotz räumlicher Distanz intim bekannten Gegenüber. Das Gekonnte liegt – trotz der letztlich immer wieder, manchmal bis in die Details vergleichbaren Situationen – in den unterschiedlichen Facetten, deren Wirkung auf Raum und Menschen ganz persönlich und nachvollziehbar verifiziert wird. Etwa: Überhaupt sind die Orte, von klein bis groß, alle sehr reputierlich und ansprechend (162), oder Nur einige Kilometer braucht’s weg von Wien, und schon steht die Entfernung im Ausdruck der Gesichter vermerkt (S. 248), oder Ich mag die heutigen (7. 12. 1984) Landschaftsfarben, lauter Dekadenz, erdgrau, stumpfgrün, mattschwarz, und alles durch den Nebelfilter (S. 278/279), oder Hab auch gemerkt, dass man Alter am Gang erkennt … (S. 305) Es wird niemals zu viel, ja niemals genug: Gedanken sind Ameisen, die Nadel um Nadel heranschleppen, um einen Haufen zu türmen (140).
Die Beschreibung des Sichtbaren wandelt sich dadurch zum ganzheitlich Gesehenen, ein fundamentales Kriterium für die Schriftstellerei: In der Natur löst sich so viel vom Druck (S. 227). Auch heißt es: Ich lief, wie oft im Traum, in einem Stiegenhaus, Stockwerk um Stockwerk hinab (S. 251) … dies gleichsam als Echo der besuchten Schulhäuser. Und im novembrigen Gablitz sieht sie eine Milchpfefferkatze hinter einer Fensterscheibe. Ein nackter Baum, entblättert bis auf einige Verdorrte, wie ein fruchtbares Gerippe schwarzgrau in der Sonne, vollbehangen … (S. 247). Über allem könnte als Motto stehen: Auch wo fast nichts ist, kann es schön sein (S. 136), hinter das man als Lesender gerne ein Ausrufezeichen setzte.
Vielleicht erleichtert(e) der Abstand von rund vier Jahrzehnten die Publikation solch vieler nachdenklicher und vertiefter Gedanken – Grübeln kommt von Grube. In der Grube der Gedanken graben (S. 206) – sowie reichlich offener und unverfälschter Passagen, ja auch intimer Bekenntnisse, Letztere sicherlich auch möglich nach dem 1993 erfolgten Tod des Adressaten.
Diese Beziehung wandelt sich von einem geistigen Austausch ab dem Beginn am 17. Juli 1982 zum „Du“ ab dem 21. Oktober 1983 mit einem anderen Gefühl, (…) einem gutem, warmen, vertrauten, zutraulicheren (...), denk ich doch jetzt an Dich als Ganzes, nicht nur die Liebe auf den Verstand konzentriert (73). Dieses Denken an das Gegenüber grundiert alle Briefe: Für mich und mein Erinnern reicht das Tagebuch, die Briefausführung ist ja für Dich (S. 139), und erlaubt nicht nur den Mitteilungsdrang, sondern vielfach die Spiegelung von Gedankenverbindungen … und kann die im Lauf der Monate zunehmenden und eindringlicher werdenden Liebesbeteuerungen nicht hindern.
Genauso freimütig und ehrlich stellt sich die Briefschreiberin selbst vor. Die Begleitmusik ergibt sich aus den alles andere als einfachen Umständen neben dem Broterwerb im kaufmännischen Bereich: das sehr frühe Aufstehen meist freitags und/oder samstags nach oft schlechtem Schlaf, das teilweise alles andere als bequeme Umsteigen auf den öffentlichen Linien Wiens bis hin zu Renneinsätzen, eine gewisse Platzangst: Das alte Lied, ich bin sehr froh, nicht täglich zwischen den Massen (S. 293), darum sind die Fahrten auch immer wieder Befreiung: immer nur enge Mauern, Wohnung, Comptoir, Stadthäuser herum, bedrückt schon; ich merk jetzt, wie gut es tut, ins Weite zu blicken (S. 327), die einsame, oft langwierige Suche nach wind- oder sonnengeschützten Plätzen zum frugalen Verzehr (fast immer Brot, Käse und Obst), das stete Ausforschen von halbwegs passablen „Örtlichkeiten“ und nicht zuletzt die hohe Geruchsempfindlichkeit, die Anfälligkeit für trockene Luft in stickigen Räumen bei Sauerstoffmangel. Hinzu kommen Tageskondition und die ungute finanzielle Situation mit Reiseausgaben, magerem Honorar und der jeweils bleibenden Hoffnung auf Umsatz durch die Bücher; die Stoßseufzer sind kaum zu vermeiden. So etwa am 30. März 1984: Sicher dauert’s noch 1 Jahr, bis die Auflage verkauft, dann geh ich zu einem Verlag, berichte, dass ich selber 5000 Bücher verkauft, 100 Schulen besucht, mein eigener Werbechef bin und daher weiß, dass das Buch ankommt … (151)
Umso erstaunlicher, dass das Schriftbild – zumindest gemäß dem beigefügten Faksimile – äußerst flüssig, ordentlich (etwa mit fast korrekt linksbündigen Zeilenanfängen) gesetzt und gleichmäßig im Duktus bleibt. Darin wird wohl auch das Bewusstsein einer Schreibenden manifest: Die Sprache verbleibt zwar auf der Basis eines gewissen mundartlichen Tons bis hin zu unvollständigen Sätzen in altertümlicher Perfektform ohne Hilfswort oder Anmerkungen als, aber sie wird durchwirkt von vielen vollmundig-erfrischenden, beschreibungsgewandten (S. 26) Adjektivbildungen wie graphischwinternackte (Bäume) oder blauhimmelschön (S. 89) bzw. schlafdösendtagträumend (78) angesichts der Visavislinge (S. 80), ebenso im aufblitzenden Bildungsgut in anspielungsgesättigten Beschreibungen von der nettländliche(n) Sitte (S. 75) bis hin zur Reiser(o)ute (19). So ergibt sich ein „plastisches“ Bild der alltäglichen Vorkommnisse, bei aller Lebendigkeit durchaus präzise auf die Verständigung bezogen. (Dabei mag die jahrelange Erfahrung der Übersetzung aus dem Dänischen positiv Pate gestanden haben.)
Sich verständlich machen, sich auf die Partnerschaft einstellen, Mitteilungen bündeln: All diese Qualitäten kommen zum Durchbruch bei der Kernaufgabe: dem Vorlesen vor Kindern der ersten Schulklassen, das in seiner Lebendigkeit zum eigentlichen Miterleben aufruft, weil nicht nur Zuhören, sondern auch Zusehen (…) Vergnügen bereitet (81), oft direkt greifbar: Zum Schluss lagen sie am Bauch, die Hände aufgestützt, das zeigt, wie ich weiß, höchstes Wohlbefinden (S. 257). Der Hit dabei ist offenbar das „Tierarium“ und darin eine Affengeschichte, die (spätestens) das frontale Gegenüber auflöst. Ja (…), mein Erfolg, es ist überall bei den Lehrern das gleiche Wundern (S. 77). Eine Art anderes Wundern, das sei erlaubt anzumerken, ergibt sich bei Feststellungen, die trotz des Abstands von rund 40 Jahren aktuell anmuten, wie in den folgenden Stichproben: Klage des Direktors (…), dass nicht einmal (…) die Kinder flüssig lesen und einen Satzsinn wiedergeben könnten (S. 175) bzw. dass sich die Kinder in den Ferien nicht erholen, da sie auf Fernreisen mitmüssen (S. 226).
Das Ende des Briefkontakts reflektiert offensichtlich einen Lebensabschnitt in einem datumsmäßig nachgeschobenen Schreiben. Ich bin auch innerlich alt geworden in diesen 5 Jahren Lesereisen, es wurde mir bloß durch alle Geschehnisse nicht sofort klar (S. 316). Denn: Es ist genug. Irgendwie find ich’s jetzt an der Zeit, strapaziös genug war es ja, schön auch, sollte zufrieden und nicht traurig sein (28. 6. 1985; S. 319). Dabei macht nicht allein der Rückblick das Buch lesenswert. Als Fazit darf gelten: Es ist neben den vielen zuverlässigen Beobachtungen des Kleinen im Alltag nachgerade deren Umsetzung in eine persönlich gehaltene Sprache, die den individuellen Wert des Buchs ausmachen.
Martin Stankowski (2024)