Rezension
Gerhard Blaboll
69 Stunden ins Paradies
edition lex liszt 2023, 347 Seiten
ISBN 978-3-99016-255-2
Der Roman erzählt entlang der Hauptfigur von einem Aufbruch und einer Reise, von Erwartungen, ihren Korrekturen durch die Realität, und von Veränderungen sicher geglaubter Sichtweisen.
Jeremias Freimuth, Außendienstmitarbeiter einer Firma, ein erfahrener Berufsreisender, vor allem vertraut mit afrikanischen Ländern, findet sich durch die ungewollte vorzeitige Beendigung seiner Arbeitsbeziehung in einer, wenn auch wirtschaftlich nicht bedrohlichen, aber unangenehmen Situation wieder, der er entkommen will.
Seine Frau Hannah, Mitarbeiterin des Außenministeriums, die in unterschiedlichen Regionen Europas eingesetzt wird, mit der er trotz ihrer Fernbeziehung einen beständigen und regen Austausch lebt, rät ihm, Afrika einmal für einen Urlaub zu bereisen.
Während Hannah ihrem beruflichen Ruf nach Spanien folgt, fängt für Jere, so sein Kurzname, nun eine Reise an, die bereits mit einem ungeplanten, verlängerten Aufenthalt in Lissabon beginnt, bei dem einige der Mitreisenden für das weitere Reiseabenteuer auf dem Weg nach Senegal mitbestimmend werden.
Was folgt, ist zugleich ein kontinuierliches Aufbrechen unserer klischeehaften Vorstellungen über Afrika und ein kontinuierliches Zerbröckeln von Jeres bisherigem Afrikawissen. Nach und nach verschieben sich die Gewichtungen dessen, was als wesentlich verstanden wird, und immer wieder erfahren die vorbestimmten Blickwinkel des Urlaubers und zugleich beruflichen Routiniers auf Reisen in den vielen Begegnungen Korrekturen. Wesentlich dazu trägt Douada bei, ein Junge aus der Bidonville¹ von Pikine, der Jere durch Übersetzung aus einer schwierigen Situation hilft, und Manuel, ein ehemaliger Geschichtslehrer aus Dakar, der im Alter aushilfsweise Taxi fährt. Beide ermöglichen Jere in immer wieder überraschenden Wendungen, die diesen Roman auch ausmachen, einen Zugang zu einem bisher wenig bekannten Afrika und in der Folge auch zu einem veränderten Verhältnis zu seiner aktuellen Lebenssituation. Welche Rolle bei all dem Haile Bekele, der Freund aus Addis Abeba, spielt, das finden Sie selbst heraus.
Während sich Jere zu Beginn seiner Reise beim Warten auf den Anschlussflug durch eine gesprächige Mitreisende vom Lesen abhalten lässt, ließ ich mich beim Lesen nicht unterbrechen, verspürte kein Bedürfnis, einmal in die Geschichte eingetaucht, den Textfluss wieder zu verlassen. Was sicher auch mit dem Humor zu tun hat, der dem Text eingewoben ist.
Der Roman liest sich für mich in den eröffnenden Kapiteln wie ein Drehbuch, die einzelnen Szenen durch Schnitt getrennt, und erst aus der Montage dieser Episoden entspinnen sich die Fäden zwischen den Teilen. Diesem formalen Prinzip folgt der Roman bis zum Schluss, die Schnitte zeigen durch die kontinuierlich intensiver gesponnenen Fäden im Laufe der Zeit immer deutlicher ihren verbindenden Charakter.
Der Text wechselt von Anfang an zwischen Intensität und Leichtfüßigkeit, wird oft erfrischend wie Bissap, zergeht da und dort wie Pastéis de Belém auf der Zunge während der Lektüre.
In der Beschreibung der Orte verbinden sich Liebe zum Detail und die Kenntnis des Autors über die Hintergründe und Lebensrealitäten vor Ort. Ausflüge in die Geschichte der jeweiligen Orte der Handlung kommen nicht zu kurz, ein Anliegen des Autors, das auch aus seinen bisherigen Publikationen ersichtlich ist, die diesem Romandebüt vorausgegangen sind. Zusätzlich hat Gerhard Blabolls genaue Kenntnis der aktuellen Situation in verschiedenen afrikanischen Ländern zur Folge, dass wir zum Beispiel auch genauer erfahren, warum in Westafrika, einer Anbauregion für Kakao, keine einheimischen Schokoladen zu finden sind. Erstaunliche Blickwinkel tun sich auf.
Trotz der Intensität der in manchen Momenten nachdenklich stimmenden Themen zieht die Lebendigkeit der Figuren, die im Verlaudieser Reise auf unerwartete Hindernisse, aber auch unerwartete Erkenntnisse stoßen, die Lesenden beständig weiter, bis zum Ende hin.
Allen empfohlen, die sich nach paradiesischen Destinationen sehnen. Und auch allen, die bereits alles über Afrika wissen (zu wissen glauben?).
Bruno Pisek (2024)