Rezension
Elisabeth Escher
Der letzte Akt vom Puppenspiel
Roman
Eifeler Literaturverlag 2023, 210 Seiten
ISBN 978-3-96123-078-5
Der Einstieg erfolgt ganz direkt: Die Ich-Erzählerin Frau Hildegard berichtet in knappen Aussagen über den Stand der Dinge: Sie skizziert ihre Welt, die Welt einer rüstigen 94-Jährigen, zum Anlass des (jeweils zweiwöchigen) Besuchs des Sohns höchst lebensnah, nüchtern und kühl (S. 146), somit selbstbewusst und kritisch zugleich. Diese Art der zu drei Viertel trockenen, zu einem Viertel doch Sentiment-gebundenen Kommentierung wiederholt sich noch ein paar Mal im Lauf der Erzählung. Meist allerdings treten, auktorial behandelt, die anderen Beteiligten mit ihren Wehwehchen und Überlegungen in mehr oder weniger langen Abschnitten abwechselnd auf die Bühne: Sohn Wieland allein oder mit Gattin Sophie in Wien, die 24-Stunden-Pflegerin Anyana aus Rumänien mit dementsprechend charaktervollem Deutsch, die späte, ziemlich jüngere und nun doch betagte Freundin Rosi. Mit der Zeit spielt die Enkelin Jenni als (beidseits) einzige emotional gebundene Person eine wesentliche Rolle, zu der schließlich noch Helene hinzutritt – über sie zu sprechen, würde den entscheidenden Überraschungseffekt des Buchs vorwegnehmen. Gleich bleibt stets der Bezugsrahmen: ein altes Haus im westlichen Salzburg, Erwerb des zwischenzeitlich verstorbenen aber nach wie vor als Referenz wirkenden Gatten Viktor Glas, seines Zeichens Landesrat.
In der somit im Anspruch durchaus großbürgerlichen Atmosphäre erscheint das Leben gut eingestellt und nimmt seinen gleichmäßigen Gang in den täglichen, mehr oder minder harmlosen Verrichtungen als gleichsam anhaltende Gegenwart, der die Fadesse (S. 15) nicht abgeht. Doch innerhalb der glatten Oberfläche, getragen vom absolute(n) Unwillen, sich auch nur Zentimeter aus der Komfortzone heraus zu bewegen (S. 139), zeigen sich Risse, die unterschwellige Störungen, Verschiebungen bis hin zu Magmaflüssen andeuten. Ein äußeres wesentliches Zeichen setzt ein im Obergeschoß stets verschlossenes Zimmer, in dem eine ganze Sammlung an Puppen aufbewahrt wird, für welche die doch ansonsten steif-adrett und kontrolliert wirkende Dame des Hauses einst wunderschöne Kleider nähte – bei dem Buchtitel naheliegend ein Pièce de Résistance mit zunehmender Bedeutung für das zuerst holpriger werdende, dann durchaus turbulente Züge annehmende Geschehen. Die scheinbar beruhigte Familienkonstellation erwies sich nämlich bislang als ein komplexes Nebeneinander, das sich indes im gewohnten Weichbild noch recht passabel managen ließ. Bis dann ein uneheliches Kind Hildes aus der ersten Nachkriegszeit, bis dato verschwiegen, auftaucht und die honorig-stabilen Kulissen auflockert und dreht. Der sich daraus ergebende letzte (rund 50 Seiten starke) Akt ändert trotz allem an der gediegenen Konstellation nichts und verläuft in seinen unterschiedlichen Rückwirkungen doch ziemlich dramatisch.
Frau Eschers schriftstellerisches Konzept liegt darin, sich ganz auf die Perspektive der handelnden Personen zu konzentrieren und in ihnen die Entwicklungen zu zeigen, besser noch: zu verifizieren. Das Gewicht ist dabei gleichmäßig verteilt, eigentliche Nebenfiguren gibt es nicht, weil alle am Handlungsstrang Beteiligten ihren „gerechten“ Anteil haben. So fehlen in dem Kaleidoskop die herausragenden Sympathieträger, das Interesse wendet sich je nach Szene den jeweils Agierenden zu, um in der nächsten das Augenmerk auf einen Teil der anderen zu lenken. In dieser Mischung aus Außenansicht und Selbstgesprächen liegt die dialogische Kunst des Theaters begründet, die, ohne dass der Faden verlorenginge, die rasche Szenenfolge einer Drehbühne erlaubt, welche in diesem Fall nur zum Teil von den Dialogen als vielmehr stark von der wechselnden „Belichtung“ lebt. Das Besondere erscheint mir denn auch in dem Gemenge aus dem individuellen Tätigwerden der Personen und dem gleichzeitigen Blick des Lesenden auf eine gesamtheitlich verstandene Szenerie zu liegen. Oder in den Worten Frau Hildes, die für ein Motto des Ganzen gelten könnten: Es gibt noch so viel zu tun, ich sagte es bereits, und dafür ist das Jenseits ein ungeeigneter Ort (79). Und dies ist bis zu einer Lösung des Problems so konsequent durchgehalten, dass es die Freude der lesend Betrachtenden stets aufs Neue nährt, indem bei aller Realistik ein schwebender Zustand verbleibt. Der Schlussapplaus dient deshalb ganz der nur vermeintlich mühelosen Leistung der Schriftstellerin.
Martin Stankowski (2024)