Rezension
Johanna Dürnecker
Feuerfalter
Erzählungen
Literaturedition Niederösterreich 2024, 144 Seiten
ISBN 978-3-902717-74-0
Johanna Dürnecker schreibt Prosa, aber in Gedichten. Gedichte lassen die Gedanken des Lesers locker wandern und fließen. Der Text kommt manchmal in kanonischer Syntax, manchmal in Brocken, die ohne Hauptwort oder Verb zünden. Alles, was mit einem Punkt endet, ist eine Mitteilung oder die Übertragung eines Gefühls, die Gefangennahme in einer Stimmung.
Das Anliegen der Erzählungen sind die Beziehungen zwischen zwei, drei Menschen. Die Stärke des einen oder des anderen. Die Figuren dürfen in ihren Gefühlen leben. Oft sind ihre Gedanken keinem Ziel und keiner Ordnung unterworfen. Der Verstand kann keine Ziele vorgeben; die müssen anderswo herkommen, anderswo gesucht werden. Die Ziele brechen ein, sie kommen aus dem autonomen Gebiet der Seele, des Körpers. Sie kommen aus Gebieten außerhalb des Verstandes. Für den Verstand sind sie transzendent. „Eine Frau mit überüppigem Körper arbeitet tüchtig, ordentlich. Aber im Haus ist sie eine Sache. Dann, in einer unbeabsichtigten Situation kommt ihr Nacken nahe, ganz nah. Das war die Zündung, und ein herrliches Leben folgte.“
Oder: „Jakob Goldammer treibt seine Kühe in den Stall. Er kennt jeden ihrer Namen. Er liebt die Einsamkeit, jahrelang. Die ledige Wirtin vom Tavernenwirt? Niemals!“ Das wäre Zerstörung der Ordnung. Aber der Mann, diese Figur, darf träumen, sich einmal in der Welt und einmal außerhalb fühlen, ohne Orientierung schweben. Dürnecker lässt den Mond zu dem Einsamen sprechen, er darf auch fühlen, wie die Sonne jubelt.
Die Geschichten sind dicht. Man sollte pro Tag nur eines dieser kurzen Dramen lesen. Sie ziehen einen in Zustände des Gefühls, die die eigene Orientierung verlieren lassen. Die Erzählungen können im Niemandsland ihren Anfang nehmen. Ein Mann findet sich in einer utopischen Welt, die - war es eine Katastrophe? - entvölkert, ist. Tagelang wandert er, ohne einen Lebendigen zu sehen. „Durch Leichen und Skelette und Häresien, durch den Schlamm des Jahrhunderts.“ Er geht und geht und hungert. Er verkommt. Eine Frau findet ihn. Er lebt noch. Sie ekelt sich vor ihm. Sie füttert ihn. Langsam kommt er zu Kräften. Er weiß, er sollte gehen. Er findet einen Aquamarin und schenkt ihn ihr. Wie er heiße, fragt sie ihn. Er habe keinen Namen, früher sei er Paul gewesen.
„Rupert“, sagt er. „Ja, sag Rupert zu mir, das passt. Ich möchte noch einmal beim Namen gerufen werden, wenn auch nur zum Abschied.“
Später spricht sie zum Hund: „Komm, wir packen den Rucksack!“
Dürnecker ist konträr zu Kant, unserem verehrten Denker. Sie denkt nicht in Gesetzen, sondern in Kategorien von Zuneigung, Hass, Wärme, Kälte. Die Aufklärung basierte zum einen auf dem Aufblühen der Naturwissenschaften. Dadurch kamen Vernunft und Verstand in den Vordergrund. Zum anderen wollte das anwachsende Bürgertum und das Handwerk nicht mehr unterhalb von Adel und Kirche zu einer Kategorie zweiter Ordnung gehören: „Gleichheit!“ hieß das Motto. 52 Jahre alt war Kant, als Thomas Jefferson formulierte: „All men are created equal.“ Im gleichen Sinne erklärte Kant, es gebe aus Gründen der Vernunft ein für alle Menschen gleichermaßen geltendes Sittengesetz: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Das Sittengesetz sei unabhängig von menschlichen Konventionen, überzeitlich.
Wie anders Johanna Dürnecker! Die Quelle ihrer Personen, für ihr Fühlen, Träumen, Denken und Handeln entspringt der Person selbst und ist in jeder Person anders, ein allgemeines Gesetz ist nicht aufstellbar. Die geschriebenen Gesetze, sofern sie in Dürneckers Texten überhaupt erscheinen, sind erstrittene Kompromisse.
„Er liegt stumm neben ihr und sie sitzt stumm neben ihm, was sollte sie auch sagen? Er hätte es so wenig gehört und ernst genommen wie sonst auch. – Es ist neun Uhr und die Leichenbestatter kommen nicht vor zwölf Uhr.
Wie wird der Park aussehen, nach ihm, ohne ihn? Wird seine Welt zerfallen? Mit ihm in die Gruft gehen und etwas ganz anderes kommen? Er hätte es nie geduldet. Nicht erlaubt. Nicht ertragen. Er hätte es verboten. Sein Wille geschehe.
Niemals zurück. Niemals an dieses andere Ufer, von dem sie beide kommen. – Mit tausend stählernen Augen glotzen die Blocks über den Fluss. Wohnung 5. Stock, 60 Quadratmeter. Es riecht nach Szegediner Krautfleisch. Jeden Tag: Hallo, Hallöchen! – Drüben, am anderen Ufer, gehen abends die Lichter an: da und dort aus großen Fenstern und aus Kandelabern in den Gärten. Er ging über den Planeten wie über ein Fußballfeld. Die Firma floriert. Wird es möglich sein, die Folie seines Willens abzuziehen? Man musste ihm bedingungslos glauben.
Juan, ich habe deine Ruhe mitgenommen übers Wasser bis hierher, ans andere Ende. Wäre deine Glut nicht mit mir gegangen, ich hätte nicht überlebt. Nein, komm nicht her, du würdest erfrieren. Und die Feuerfalter, erinnere dich an die Feuerfalter, irgendwo im Hinterland. Es war, als tanzten wir mit ihnen.“
Walther Menhardt (2024)