Rezension
Irene Diwiak
Sag Alex, er soll nicht auf mich warten
C. Bertelsmann 2023, 368 Seiten
ISBN 978-3-570-10468-2
Erfindung einer Begegnung
Es ist ein Wagnis, die Geschichte einer gutdokumentierten und historisch ausführlich analysierten, gegen das NS-Regime kämpfenden Widerstandsgruppe in literarischen Stoff zu verwandeln. Die in Graz geborene Irene Diwiak erklärt in ihrem Nachwort, warum sie sich der „Weißen Rose“ angenommen hat. Sie bekennt unter anderem, dass Widerstandsgeschichten Geschichten der Hoffnung sind. Genau diesen Geist vermittelt dieses ausgesprochen genau recherchierte Buch, das sich als Fact-in-Fiction-Komposition verstehen lässt. Wenn auch die Briefe, Tagebucheinträge und weiteren Materialien viele biografischen Schlüsse nahelegen, so ist doch die direkte Rede und die Festlegung verschiedener Befindlichkeiten dieser historischen Protagonisten ganz der kreativen Kraft und literarischen Ausformung der Schriftstellerin überantwortet. Das kann schiefgehen, zumal gerade die beiden Geschwister Hans und Sophie Scholl rasch zu Ikonen des innerdeutschen Widerstands gegen die Nazis wurden. Doch Diwiak entwirft vitale Charaktere und zeigt ihre Widersprüchlichkeiten plastisch auf. Hans Scholl ist zunächst ein erklärter Sympathisant der Nationalsozialisten und ändert angesichts des Krieges und der wachsenden Repression innerhalb Deutschlands seine Gesinnung. Zumal es insbesondere die so verständlichen wie allgeme nen Themen Heranwachsender sind, die nicht den Widerstandskämpfer Scholl, sondern den jungen Erwachsenen mit seinen erotischen Neigungen und seiner Lust an Ungebundenheit porträtieren. Als Lesender nimmt man genau an diesen feinfühlig geschilderten Entwicklungen Anteil.
Eine europäische Freundschaft
Im Mittelpunkt von Diwiaks Roman steht die Freundschaft von Hans Scholl und Alexander Schmorell. Sie bewegen sich aus verschiedenen Welten aufeinander zu. Der aus Ulm stammende Scholl hat eine starke Neigung zu Philosophie und Religion, während Schmorell seiner alten Heimat Russland nachträumt. Seine Familie musste angesichts der proletarischen Revolution flüchten. Verstärkt ist der Verlust der Herkunft durch den frühen Tod der Mutter Natalija 1918. Gekonnt skizziert die 32-jährige Autorin innere Motive. So heißt es auf Seite 56 zur Psychologisierung Schmorells: „Es ist schon eine gewisse tragische Komik dabei, wenn einer in jeder Frau seine Mutter sucht und dann seine Stiefmutter findet.“ Das ist nicht nur pointiert, sondern zeigt treffsicher den Hang zur Unerfülltheit, den Alexander „Schurik“ Schmorell pflegt. Besonders deutlich wird dies anhand der Schwärmerei für die verheiratete Angelika (Angeli) Probst, der Schwester des ebenfalls zur „Weißen Rose“ zählenden Christoph (Christel) Probst. Das Personal ist umfassend, und dennoch fokussiert die Schriftstellerin auf die beiden Männer Scholl und Schmorell. Wie sie sich eher beiläufig, ja skurril kennenlernen, wie sie einander aufgrund ihrer Verschiedenartigkeit zu faszinieren beginnen. Immer wieder sind es häusliche Zusammenkünfte, etwa in der Münchner Villa der Schmorells. Der Vater Hugo hat als Arzt Karriere gemacht; das bürgerliche Leben scheint vorgegeben, denn schließlich studiert auch Alexander Medizin.
Widerstand als graduelles Gären
Auch Schmorell ist kein Widerstandsgeist aus ideologischer Überzeugung. Er muss erst zu einem erklärten Gegner der Nazis werden und will doch bis zum Schluss Pazifist bleiben, weil er mehrfach wiederholt, weder einen Deutschen und schon gar nicht einen Russen ermorden zu wollen. Es ist der Einsatz an der russischen Front in der Oblast Smolensk, der Hans und Alexander die Unmenschlichkeit und den Irrsinn dieses Krieges vor Augen führt. Obwohl sie von besonderen Gräueln verschont bleiben, leisten diese Erfahrungen die entscheidenden Prägungen, damit sie ihre Flugblätter noch vehementer und flächendeckender vervielfältigen. Auch formiert sich an der Front die Kerngruppe breiter, es stößt Willi Graf hinzu. Während in Deutschland Sophie Scholl das Unrecht resoluter aufzeigen möchten.
Es sind junge Menschen, die hier zueinanderfinden und wider ihre Absichten eine historische Rolle einnehmen. Gerade die Schlampigkeit und Naivität, mit der die Gruppe ihre Guerilla-Aktivitäten umsetzt, macht sie zu Normalsterblichen. Am ehesten ist noch Sophie Scholl begabt darin, erfolgreich Widerstand zu leisten und dabei die Quellen zu verschleiern. Mehrfach ermahnt sie sowohl ihren Bruder als auch Schmorell, Originale zu vernichten und Spuren zu tilgen. Insbesondere die Jungendhaftigkeit der Revolutionäre erzählt aber am intensivsten vom Aufbegehren gegen Unrecht. Es ist keine ideologisch geeinte oder persönlich reife Gemeinschaft, die sich auflehnt. Es sind Menschen, die sich zu einem politischen Bekenntnis gezwungen sehen. Schwärmerisch wie Hans Scholl, aufbrausend wie Alexander Schmorell oder planvoll vorausschauend wie Sophie Scholl. So unterschiedlich die Charaktere sind, so sehr verbindet sie ihr gemeinsames Ziel.
Menschen, keine Übermenschen
Der Roman befasst sich eben nicht mit dem Ende dieser Menschen, sondern mit ihren Anfängen. Mit dem Erwachen einer politischen Haltung und der Reibung, die junge Menschen suchen. So erscheint das Entstehen der „Weißen Rose“ als etwas Selbstverständliches und Niederschwelliges, geboren in einem Wohnzimmer, umgesetzt mit einfachen Mitteln und nicht getragen von einer komplexen Organisation, sondern von Einzelnen, die den moralischen Kompass fassen möchten.
Den russischen Angriff in der Ukraine am 24. Februar 2022 konnte die Autorin während der Arbeit an ihrem Roman nicht erahnen. Doch die Freundschaft eines Russen mit einem Deutschen wie sie bildmächtig in dem Satz Sag Alex, er soll nicht auf mich warten spürbar wird, mahnt einen anderen Umgang miteinander ein. Diese Aufforderung soll im Übrigen Hans Scholl am 18. Februar 1943 Gisela Schertling zugerufen haben, als er beim Verteilen der Flugblätter an der Universität in München festgenommen wurde. Schon vier Tage später werden er, Sophie und Christoph Probst hingerichtet. Später im Jahresverlauf exekutiert das Nazi-Regime mit Alexander Schmorell, Willi Graf und Kurt Huber weitere Mitglieder der „Weißen Rose“ und bringt diesen wie viele weitere Widerstände gegen den faschistischen Wahnsinn zum Verstummen.
Alexander Peer (2024)