Rezension
Franz Forster
Saga der Unbekannten
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg, 2022, 365 Seiten
ISBN 978-3-8260-7491-2
Der Titel dieses Buches macht auf besondere Weise neugierig. Welchen Unbekannten ist eine Saga gewidmet? Wo und in welchen Zeiten werden die
Zusammenhänge zwischen Geschehnissen und ihren Akteuren sichtbar werden?
Der Autor Franz Forster ist als langjährig publizierender Lyriker, Essayist und Herausgeber von literarischen Anthologien, sowie als auch international tätiger Literaturwissenschafter bekannt, und gerade deswegen steigen gewiss bei interessierten Lesenden Neugier und Erwartung angesichts dieses monumentalen Werkes.
Zehn große, mehrfach unterteilte Kapitel sind dicht gefüllt mit meist ungeschönt naturalistisch beschriebenen Erlebnissen und Beobachtungen. Diese beziehen sich auf die Mitglieder der eigenen und auch der befreundeter Familien sowie auf einzelne, in unterschiedlicher Weise auf einander Einfluss nehmende Personen, Nachbarn, Haus- und Dorfbewohner wie etwa Handwerker, Lehrer und Ärzte.
Diverse Themen wie Landwirtschaft, Licht, materielle Einschränkung, Tiere, Schule, Reisen, Krankheit erscheinen in der oft bruchstückhaften und dann wieder ausladenden Darstellung beeindruckend und authentisch.
Franz Forster erzählt von Ereignissen, die er selbst erlebt und die er früher schon
seinen Kindern erzählt hat. Seine Erinnerung reicht zurück bis zu seinem dritten Lebensjahr, also bis in das Jahr 1943. Der früheste Eindruck: Er sitzt mit seiner Mutter und einem älteren Buben auf einem Pferdewagen, der beladen ist mit Milchkannen. Es regnet. Sie sind unterwegs am Rande eines Dorfes auf einer nicht asphaltierten, schlammigen Straße. In den Städten herrscht Not, und es fielen Bomben. Die Mutter reiste mit ihm von Wien aufs Land. Sie kamen in die Wohnung von Verwandten. Darin der Cousin Ernst. In einer anderen Erinnerung kümmern sich Frauen auf einem Bauernhof, dem Lehhof, um ihn. Und er spielt mit seinem Freund Franzi. Später, in den letzten Kriegstagen, hatte ein Knecht draußen eine Handgranate gefunden, sie in die Stube gebracht, und es kam zur Explosion. Der Knecht, der Bauer und auch Franzi starben (vgl. S. 12).
Mit den knappen, aussagekräftigen Berichten wird die Atmosphäre des Alltags in einer allgemein bedrückenden Lebenssituation deutlich spürbar.
Aus kindlicher Sicht werden etwa auch Feste und Brauchtum, unvoreingenommen und wenig weihevoll, aber unmittelbar erlebt, besonders Krampus und Weihnachten.
Innerhalb der nicht immer chronologischen Abfolge reihen sich viele einzelne Begebenheiten, Rückblicke und Generationen-Vergleiche aneinander. Sie bilden in Überlagerungen und Verknüpfungen ein riesiges, überaus umfangreiches Erzählgut, das sich, einem Gobelinteppich gleich, in vielen Farben ausbreitet. Die stellenweise enge Aufstellung von Personen und Vorgängen, verbunden mit verschiedenen Orten und Umgebungen, wird zu einem Kaleidoskop von manchmal nur splitterartigen Erinnerungsstücken des Autors. Er spannt den Bogen von den Facetten der Eindrücke aus der Kindheit bis zum Hineinentwickeln in die Welt der Erwachsenen, ohne besondere Wertung und ohne Bitterkeit.
Franz Forsters persönlicher Werdegang ist nicht nur in der Vielfalt interessant, sondern umfasst teils beklemmende, aber auch erfolgreiche Abschnitte.
Nach mehreren Anläufen zu einer für ihn geeigneten beruflichen Ausbildung hat er sich – die mit Juristerei, Forstwirtschaft und Jazz verbrachte Zeit hinter sich lassend – schließlich für die Studien der Germanistik und der Theaterwissenschaft entschieden. Seine eigene wissenschaftliche Akribie, verbunden mit themenbezogener Hartnäckigkeit, wird, trotz verschiedener Darstellungsformen, in diesem Buch deutlich.
Im weiteren Verlauf der Saga holt der Autor zu ganz anderen Bereichen aus:
Einen großen Raum nehmen weitreichende Nachforschungen in Archiven und Dokumentationsstellen und Erkundungen jeglicher Art ein, um historisch und politisch relevante Aktionen von Mitgliedern in der ferneren Verwandtschaft näher beleuchten zu können. Da wurde Alois Urbanek, geb. 1829 in Schlesien, laut Adelsbrief als Hofrat und Finanz-Landes-Direktor durch Kaiser Franz Joseph zum Edlen von Schlesheim ernannt (vgl. S. 181f.).
Dann ist ein Kapitel dem Kroaten Stefan Duic, einem ebenfalls fernen Verwandten, gewidmet. In den letzten Jahren der Monarchie erwies er sich als fähiger Stratege
und Befehlshaber. Danach strebte er – schließlich auch mit Anwendung von Gewalt – ein selbständiges Kroatien an. Duic wurde im Jahr 1934 während eines KurAufenthalts in Karlsbad in seinem Hotelzimmer, wobei man auf sehr ungeschickte Weise vorzutäuschen versuchte, er habe Selbstmord begangen, wahrscheinlich durch Agenten des Jugoslawischen Königreichs ermordet (S. 184).
Die dramatische Komplexität dieses Falles bringt neue und unerwartete Aspekte in den Verlauf der Geschehnisse.
Der Großvater Forsters, Franz Berger, leitete bei der Landnahme des Burgenlandes 1921 einen wichtigen Abschnitt gegen ungarische Freischärler.
Erst gegen Ende des Buches zieht Forster wieder engere Kreise um sich, beleuchtet Herkunft, Spekulationen und Sehnsüchte. Suchend und sammelnd durchstreift er seine Erinnerungsströme in Rückblicken, im Innehalten und in vagen Ausblicken auf seine Nachkommen.
Ein überraschender Abschluss ist sein distanziertes und besonnenes Heraustreten aus den Geschehnissen und seinem Schreiben darüber.
Überraschend und informativ sind auch die am Ende befindlichen Sach- und Worterklärungen (S. 354f.), mit Hinweisen zu sprachlichen Besonderheiten, bis hin zu Ländliche Schimpfworte (S. 363f.).
Es ist durchaus lohnend, sich für dieses opus magnum entsprechend Zeit zu nehmen, um neue Erkenntnisse aus dem Leben Vieler zu gewinnen.
Sidonia Gall