Rezension
Dánila Boggiano
Sanft, ganz sanft legt sich der Wind. In tenerezza declina il vento
Gedichte deutsch/italienisch übersetzt von Franziska Raimund
Edition pen LÖCKER 2022, 91 Seiten
ISBN 978-3-99098-136-8
„Wird ein italienisches Gedicht in die deutsche Sprache übersetzt, wechselt es nicht nur den linguistischen Zeichenkodex, sondern auch den literarischen, und dieser kann auch vom besten Übersetzer nicht umkodiert werden, denn die Erinnerungssphäre eines Einzelwortes ist muttersprachlich gebunden.“ Das schreibt Eugenio Montale über das Übersetzen. Er hat gewiss recht, aber wir Leser sind glücklich, dass wir auch die Werke aus anderen, uns fremden Sprachen genießen und ihnen so nahe wie möglich kommen können.
Ein sehr feiner, intensiver Genuss ist die Lektüre der von Franziska Raimund übersetzten Gedichte der aus der Provinz Genua stammenden Dánila Boggiano. Von der ersten Zeile an trägt ein beglückender Rhythmus durch die Tage einer Kindheit, die wie „ein Geschenk empfunden“ wurden, „wie warmes Brot nach langem Fasten.“ Für die „kleinen Mädchen“ ist alles beseelt, die Pflanzen, die Früchte, der Fluss, der Kirschbaum und der Brunnen darunter. Verse wie blühende Sommertage mit Margariten und Veilchen – später werden es Mohnblumen und Veilchen sein, das Helle wird dem Dunklen weichen. Adriano Sansa, der Verfasser des Vorwortes, empfiehlt den Lesern, immer wieder bei der Lektüre zu den ersten Versen zurückzukehren. Denn diese von Schönheit und Glück durchdrungene Zeit mit ihren Geheimnissen bleibt wie ein Licht, eine Lampe in der Dunkelheit der späteren Zeit bestehen. Wunderbar die Beschreibung des Regens, der alles einschließt und verbindet: „der Regen ist der goldene Faden, der uns vereint, die Häuser öffnen sich wie Rosen… die Zeit ist ganz in jenen Tropfen eingeschlossen…die Gedanken sind Blumen, Wörter ihr Duft / die Mädchen waren Gärten und Wiesen / sie fühlten den Schmerz abgeschnittener Blumen …“ Verse von wunderbarer Poesie, beseelte Bilder. Aber später „wer weiß aus welchem Gedanken entsprungen / verteilte sich die Kränkung zwischen den Dingen … der Himmel verlor seine Wörter / sie fielen zu Boden wie verwundete Schwalben…“ Die Mädchen erlebten den Verlust geliebter Menschen, sie erfuhren den Schmerz, sie wurden erwachsen, sie „hatten den Wind gelernt“.
Das schmale Bändchen ist eine lyrische Reise durch Lebensjahre von äußerster Dichte. Noch war das Schwere, Erschütternde nicht eingetreten, „und wir achteten nicht auf den Mond / auf die Zeit die neben uns einherschritt … als wir im Schatten schon gegen den Strom schwammen“. Aus der Kindheit blieb ein Vorrat an Stabilität gewahrt, denn „man muss in einer längst vergangenen Zeit / die blühenden Silben der Stunden gelernt haben / man muss lange geruht haben / an ihren grünen Ecken“. Aber plötzlich geschieht etwas dann „bringe ich dir meine Nächte / bei Kerzenschein verbracht… und den Stein meines Atems / bringe ich dir / der mir das Herz zertrümmerte“. Die Atempause, den Fluchtort gibt es nur im Traum, in der Sprache, in den Gedichten, die wie „Nester aus klaren Wörtern die zwischen den Zweigen singen“, sind. Es ist nicht alles zu verstehen und zu deuten in diesen Gedichten, dennoch berührt es. Vieles verschließt sich und bleibt verborgen unter den Bildern der Sprache, und es will auch nicht verstanden, es will gesagt sein.
Das letzte Gedicht bringt die Zuversicht, das Sanfte zurück: „Es möge, / du der du zurückblickst / mein neuer Engel / mit finster blickenden Augen, / sich das Böse in Hoffnung / verwandeln… an die Novemberabende / werde ich Lampen hängen / aus dem Wind werde ich ein Orchester bilden / im Maiengras / umarmen werde ich die Glühwürmchen / lernen werde ich eine neue Sprache“.
Die Schönheit und Musikalität der italienischen Sprache, ihre Geschmeidigkeit, ihr Wohlklang – Franziska Raimund gibt auch dem angeblich spröden Deutschen diese Eigenschaften. Sie „übersetzt“ von Ufer zu Ufer, vom anderen zum eigenen, von einer „muttersprachlichen Gebundenheit“ in die andere. Und wir Lesende fühlen nicht wie Montale, dass die „Erinnerungssphäre eines Einzelwortes“ durch diese Gebundenheit eine andere sein könnte. Wir tauchen ein in diese Lyrik und erfreuen uns an ihrer Übersetzung.
Elisabeth Schawerda (2024)