Rezension
Rudolf Kraus
Schuldgefühle allerorts
Ein Lesebuch.
Verlagshaus Hernals 2022, 336 Seiten
ISBN 978-3-903442-33-7
Rudolf Kraus ist ein Herbstkind und das ist sein Schicksal. Eine herbstliche Stimmung, eine septemberhafte Schwermut durchzieht sein ganzes Werk. Im Nachwort zu der vorliegenden Sammlung, die Texte aus mehreren Jahrzehnten vereint – Altes, Neues, Neugefasstes –, und einen ersten repräsentativen Querschnitt durch sein bisheriges Schaffen darstellt, blickt er zurück auf seine Anfänge und bekennt, dass die Bilder, die er sich als Jugendlicher von der Welt machte, indem er sie aufzuzeichnen begann, „alle ausnahmslos in dunklen, sehr dunklen Farben“ gehalten waren: „Dunkelrot, Mitternachtsblau, Indigo, Kastanienbraun, Dunkles Schiefergrau und Schwarz“. An dieser Farbgebung hat sich im Wesentlichen nichts geändert; Kraus ist sich treu geblieben, und unser Land hat in den vergangenen Jahrzehnten das Seine dazugetan, aus ihm keinen heiteren Optimisten zu machen.
In einem exemplarischen Gedicht dieses „Lesebuchs“ gibt er sich als ein „Endefanatiker“ zu erkennen: „ein endefanatiker bin ich / gehe so gerne / auf friedhöfe / um meine ruhe / zu finden (…)“; ein anderes, eines von mehreren Selbstporträts in dieser Sammlung, trägt den bezeichnenden Titel „bleistift bin ich“ und erläutert dies kurz und bündig in vier Zeilen: „leicht auszuradieren / leicht zu überschmieren / leicht zu verlieren / schwer zu reparieren“.
Wie immer man diese Zeilen auch deuten mag, sie passen zu einem Autor, der sich nicht den langen Strecken verschrieben hat, nicht den großen Formaten, sondern den „sprachminiaturen“. Nahezu alle seine bisherigen Bücher tragen diese Bezeichnung im Titel, und auch wenn Rudolf Kraus der literarischen Öffentlichkeit in erster Linie als Lyriker gilt, so war und ist er doch in seinem Tun die meiste Zeit ein Sprachminiaturist, ein Minaturenmaler mit Worten, einer also, der Notiz nimmt und das Notierte nicht breit auswalzt, sondern weiter zuspitzt, bis zum Geht-nicht-mehr. Das Ergebnis ist dem Gedicht nahe verwandt – und doch, im Ganzen genommen, etwas anderes. In der klassischen mittelhochdeutschen Lyrik kannte man die Zweiteilung in Liedlyrik und Sangspruchdichtung, wie Walther von der Vogelweide sie in seinen Zeit- und Streitgedichten zur Meisterschaft führte. Ein später, moderner Nachfahre dieses streitbaren, zornig und empört, nachdenklich und melancholisch, mitunter aber auch schalkhaft räsonnierenden, seine Zeit glossierenden Herrn Walther ist Rudolf Kraus.
Mit seinen Sprachminiaturen hat er sich auf engstem Raum ein Feld geschaffen, auf dem vieles gedeiht: der Drei- und Vierzeiler ebenso wie das lustvolle Sprachspiel, die Dedikation ebenso wie die Hommage, Epigramme ebenso wie lakonische Liebeslyrik und, nicht zuletzt, Dialektgedichte. Eine Auswahl seiner Arbeiten im Wiener Dialekt bietet das vorliegende Lesebuch unter der schönen Kapitelüberschrift „mäufäu“, ein Ausdruck, der wohl nicht in allen Teilen Österreichs, geschweige denn in allen Ecken und Enden des deutschen Sprachraums auf Anhieb verstanden werden dürfte. Manche werden darin vielleicht ein „Maifeuer“ erkennen wollen, andere die Verballhornung eines französischen Familiennamens, dabei meint er schlicht und einfach: „redefaul“, „auf den Mund gefallen“. Dass Rudolf Kraus das nie war und nie sein wird, beweist dieses schöne, reichhaltige Lesebuch einmal mehr.
Christian Teissl (2024)