Rezension
Martin Stankowski
Stella und Claude
Roman
Verlag tredition Hamburg
ISBN 978-3-347-19442-7
So einen herrlich unmodernen Roman gibt es ja heutzutage (fast) nicht mehr! Eine Wohltat nach der „Lektüre“ von div. „Dicht“heitsproblemen von Huf-, Sarg- und anderen Nägeln.
Über viele Seiten verfolgt den Rezensenten eine Erinnerung an lang zurückliegende Lesefreuden: Stifters „Witiko“ und dessen langjährige Annäherung an seine Braut Bertha und das sind ja keine schlechten Assoziationen! Eine Verbindung zu Stifter, nun, der Autor lebt ja zur Hälfte in Oberösterreich und als Schweizer steht es ihm auch zu, ein wenig „anders“ zu schreiben.
Wenn der Protagonist erzählt: „er hielt ihre leichte, gar nicht weiche Hand ein wenig länger in der seinen, sie wehrte nicht…“ dann ist das über weite Strecken der Höhepunkt der Erotik!
Claude Gutensohn, ein wohlbestallter Hochschullehrer für Kulturgeschichte kommt von einer Dienstreise nach Wien in seinen Wohnort zurück und beschließt noch auf einen Trunk in seine „Stammbeiz“ einzukehren. Der dort versammelte Gartenbauverein begrüßt den späten Gast herzlich, man freut sich über den prominenten und gebildeten Besucher, der immer wieder im Verein mit Vorträgen aufhorchen läßt und daher kein Unbekannter ist. Nach dem formellen Begrüßungstrunk beschließt Prof. Dr. Gutensohn aber sich auf den Heimweg zu machen. Eine junge Frau, die am Rande des langen Tisches sitzt, bietet sich an zu begleiten. Und nun beginnt im Regen, im nächtlichen Nachhause-gehen eine Liebesgeschichte, vergleichbar eben der von Witiko und Bertha, oder Anna Plochl und Erzherzog Johann. Unendlich langsam! Obwohl beim Betreten des Wohnhauses die Beiden feststellen, darin gemeinsam zu wohnen und Claude seine Begleiterin für den nächsten Tag zu Frühstück einlädt, dauert es noch einige Dutzend Seiten, bis…
Stella, genannt Lia hat ein bewegtes Leben hinter sich und die aufkeimende Liebe der Beiden zueinander scheint ihre Vergangenheit zu überdecken. Schüchtern und zurückhaltend, wie sie noch sind, schreiben sie sich ihre Vergangenheiten gegenseitig. Das hat immerhin den Vorteil, man kann nicht unterbrochen werden, wie es bei einem Gespräch, einer „Beichte“ zwangsläufig der Fall wäre. Stella erfährt dabei, in welchen geordneten Verhältnissen Claude aufgewachsen ist, erfährt von seiner kurzen Jugendehe, seinem Studium und vor allem, wie dieses sein weiteres Leben und Denken beeinflusste. Es ist aufschlussreich, dass vom Autor auch ein Band mit Essays vorliegt, in denen er zu Gedenktagen von wichtigen Menschen – vor allem Künstlern – Stellung bezieht. Es bleibt nicht aus und ist aufgrund der Fülle des Materials verständlich, dass nun Claude in seinen Gesprächen – manchmal wäre man versucht von Belehrungen zu sprechen - mit Stella diese Erkenntnisse einfließen lässt. Lieber Martin, da wäre weniger oft mehr gewesen. Da stellt der Autor diese arme gequälte junge Frau auf eine arge Probe, wenn er seine akademischen Erkenntnisse zur Kultur vergangener Zeiten ausbreitet und Beziehungen und Verbindungen zur Gegenwart oder auch zur Vergangenheit von Stella herstellt. Ich vermeide bewußt den Ausdruck konstruiert, aber es ist fast ein Bauplan zu erkennen, wie die unbedarfte Stella, die einen Aushilfsjob in einem Supermarkt bekommt, in die Welt der „Kulturwissenschaft“ eingeführt werden soll. Claude nimmt seine Beziehungen zur Hilfe, um Stella auch zusätzlich eine Beschäftigung in einem Laden einer befreundeten Buchhändlerin zu verschaffen. Seine gute Fee, eine ältere Dame, die sich sehr kosmopolitisch gibt und bei seinen berufsbedingten Abwesenheiten seine Wohnung betreut, nimmt sich ebenfalls Stellas an. Anscheinend ist der gesamte Ort bestrebt den liebenswerten, etwas schrulligen Professor Gutensohn zu „versorgen“. Die Chefin des Supermarktes, die auch im Gartenbauverein des Anfangs tätig ist, veranstaltet Gartenfeste, mehr oder weniger zwanglose Zusammenkünfte in der Schrebergartenanlage, eigentlich alles, um gewollt oder ungewollt Stella und Claude zusammen zu bringen. Damit ist das „Hauptpersonal“ des Romans umrissen, die Nebenpersonen, die noch auftauchen spielen keine Rolle, außer dass eine Fabienne krampfhaft versucht den Claude für sich zu gewinnen und dabei ihre akademische Bildung gegenüber der Ladenaushilfskraft ausspielt. Doch, wie es sich für einen unmodernen Roman gehört, Claude meistert auch diese Anfechtungen souverän. Und trotzdem dauert es bis zur Seite – nein, die verrate ich nicht, sonst wird womöglich gleich dort aufgeschlagen – zur ersten Annäherung, die fast in einer Katastrophe endet. Begründet durch die Vorgeschichte(n) Stellas, für die Claude volles Verständnis aufbringt und weiter …
Es dauert danach nur mehr knapp dreißig Seiten, bis die Beiden dann endlich (!) auch ihre so ersehnte körperliche Erfüllung finden, auch dabei bleibt der Roman angenehm unmodern!
Der Rezensent hat bereits einen Band mit mehreren Novellen des Autors gelesen. Es ist auffallend, wie sich eine Linie durch alle belletristischen Texte Martins zieht: Eine Hilfe zum Selbstaufstehen nach unendlich vielen Abstürzen, es gibt immer eine Hand, die entweder zugreift oder angeboten wird. Und alle, von denen zu lesen war, haben es geschafft. Die heile Schweizer Welt? Oder ein Versuch zu zeigen, was Liebe möglich macht?
Das mögen die Leser des Romans (und der übrigen Werke des Autors) selbst beurteilen.
Modern sind sie nicht, nicht einmal postmodern! Aber lesenswert immer. Auch um ein wenig mehr vom unbekannten Wesen, dem Schweizer kennen zu lernen und deren Spezialausdrücke in der Alltagssprache zu erfahren. Denn was ein „erst vor wenigen Woche hierher zügeln“ bedeutet, geht aus dem Text zwar klar hervor, wäre aber für einen durchschnittlichen österreichischen Leser eher schwer verständlich. Ein „kurzes Znacht“ oder ein „Zmorgen bei mir“ erläutern sich von selbst, aber sie sind nette schweizerische Eigenheiten, die Gott sei Dank vom Hamburger Verlag nicht heraus lektoriert wurden.
Rezensent: Hans Bäck