Rezension
Maria Lehner
… und dann ins Schwarze Meer. Portraits
danube books 2025, 208 Seiten
ISBN 978-3-946046-43-1
Alice Rosenbaum wächst Anfang des 20. Jahrhunderts in Memmingen auf. Sie erlebt den immer stärker werdenden Antisemitismus. Schließlich wird der Vater verhaftet und ins Konzentrationslager deportiert. Er kommt wieder frei, die Familie gelangt auf verschlungenen Wegen nach Israel. Die Memminger Ach fließt in die Iller, diese in die Donau, die ins Schwarze Meer mündet, welches über Bosporus und Dardanellen mit dem Mittelmeer verbunden ist. So trifft Alice das Gewässer ihrer Kindheit wieder.
Erika wird in Budapest geboren. Als Kind ist sie viel allein, weil beide Elternteile arbeiten und es noch keine Kinderbetreuungseinrichtungen gibt. Nach der Schulzeit beginnt sie eine Lehre zur Köchin. Erika wird nur 15 Jahre alt, wird im Zuge des Ungarnaufstands 1956 von UdSSR-Militärs erschossen. Doch sie wird auch das Bild des Aufstands, denn auf der Titelseite einer dänischen Zeitung ist sie fahnenschwingend abgebildet. Und Jahrzehnte später wird – angeregt von einem dänischen Journalisten – in Budapest ein Platz nach ihr benannt.
Maria Lehner fädelt zehn Frauenportraits wie Perlen an einer Schnur namens Donau auf. Manche der Perlen liegen etwas abseits an kleineren Flüssen, die später in den großen Strom münden, andere direkt an der Donau. Gemeinsam ist diesen Frauen nicht nur die Verbindung zum Donauraum, sondern auch, dass sie alle im 20. Jahrhundert geboren wurden und dass es sich bei ihnen um sogenannte normale Menschen handelt, also keine Heldinnen oder bekannte Künstlerinnen.
Zwei Geschichten stechen heraus: „Mirella packt“ ist nicht das Portrait einer bestimmten Frau, die als 24-Stunden-Pflegerin in Österreich arbeitet und die eigene Mutter in Rumänien zurücklassen muss; die Figur ist zusammengesetzt aus den Geschichten vieler Frauen –es sind hauptsächlich Frauen, die diesen Beruf ausüben. Sie werden Woche für Woche aus südöstlichen EU-Ländern nach Österreich und Deutschland gebracht, damit sie sich hier um die wohlhabenden Alten kümmern.
Frieda, die an der Strem aufgewachsen ist, geht wegen eines Arbeitsplatzes nach Graz, also an die Mur. Und sie ist Maria Lehners Mutter. Ihr Portrait findet aber nicht nur deshalb Aufnahme in das Buch, sondern vor allem auch, weil sie eine typische Vertreterin der Binnenmigration innerhalb Österreichs ist.
Maria Lehner gibt zehn Frauen (und mehr), die sonst nicht gehört worden wären, eine Stimme. Sie tut das in präziser, klarer, unangestrengt wirkender Sprache, die niemals banal ist. Jedem Kapitel, jedem Portrait, ist eine kurze lyrische Zusammenfassung vorangestellt. Auch diese Texte sind nie kitschig, wirken auf den ersten Blick einfach, sind aber hochkomplex.
Schade nur, dass das Lektorat im letzten Drittel nachgelassen hat: Einige Beistrich- und Flüchtigkeitsfehler sind leider stehen geblieben.
Dies ist aber nur eine ganz kleine Einschränkung, denn „… und dann ins Schwarze Meer“ ist nicht nur ein Lesevergnügen, sondern regt auch zum Nachdenken an.
Sascha Wittmann (2025)