Rezension
Gerhard Blaboll
Wenn sich zwei streiten, freuen sich viele Dritte. Geschichten aus dem gelobten Land
Berger 2024, 270 Seiten
ISBN 978-3-99137-076-5
In einem Kaleidoskop aus Kurzgeschichten ermöglicht Gerhard Blaboll den Leserinnen und Lesern eine Annäherung an die komplexe Vielschichtigkeit der Geschichte des gelobten Landes in einem Heute, in dem die Auseinandersetzungen über die historisch gewachsenen Interessenskonflikte in dieser Region leider in abscheulichste und abstoßendste Brutalität abgeglitten sind.
Das Buch bietet in seinen Beschreibungen von Alltagsrealitäten und historischen Momenten sowohl Ergänzung als auch Gegengewicht zur tagesaktuellen Berichterstattung. „Wer die Nachrichten zu Israel und den palästinensischen Gebieten verstehen will, sollte es lesen. Und wer die Nachrichten dazu nicht mehr ertragen kann, erst recht!“ subsumiert der Klappentext des Buches.
Im Vorwort schreibt Nikolaus Wildner, ORF-Korrespondent in Tel Aviv, programmatisch: „Unsere Welt ist so klein geworden, dass der Nahe Osten nicht mehr ein exotischer Ort in der Ferne, sondern ein Teil unserer Nachbarschaft ist, dessen Konflikte sich auch auf unseren Straßen und in unseren Köpfen widerspiegeln. Genau genommen können wir es uns gar nicht mehr leisten, wenig bis nichts über die Lebensrealität und die Gedankenwelt der Menschen zu wissen, die den Nahen Osten zu dem machen, was er ist.“
Diese beiden Zitate formulieren den Ausgangspunkt, von dem aus es dem Autor in diesem Buch gelingt, zahlreiche Türen zu öffnen und Zugänge aus unterschiedlichsten Richtungen zu diesem Thema zu ermöglichen.
Im ersten Teil beschreibt Gerhard Blaboll Alltagssituationen aus eigenen Reiseerfahrungen: von der Sightseeing-Tour nach Hebron mit Fred aus Jerusalem, über den Erntehelfer Abdul in Or HaNer, über die Hindernisse für Mayla auf der Busfahrt nach dem Markteinkauf in Abu Gosh, von einem NGO-Besuch im Westjordanland mit Hassan, von der Rede des Rabbi Yisroel über die drei Eide Schalosch Schewuot, die G’tt den Juden abverlangt hat, über die Rede des Dreiundsiebziger-Veteranen Gal Maimon, dem Sohn des Kapitäns der Sabtai Lozinsky – dies wiederum wird in einer späteren Kurzgeschichte detailreich erzählt –, am Ende des Marsches von Tel Aviv nach Jerusalem, um gegen Netanjahu und die Regierung zu demonstrieren, von einem Eigenbericht der Palästinensischen Presse Agentur zur al-Aqsa-Flut, über eine Drohnenpilotin, ihre drei Kinder und dem stundenlangen Stehen in der Warteschlange am UNRWA-Verteilerzentrum, bis zu Noam und Djamal, einem arabisch-jüdischen Paar, das nach Kalifornien auswandert.
Jede Geschichte ist genau datiert, in jeder Geschichte entsteht ein eigener Blick auf die Realitäten im gelobten Land. Dieses erste Drittel des Buches gibt Einblicke in die aktuellen Situationen – auf Reisen erlebt.
In den folgenden zwei Dritteln lässt Gerhard Blaboll in achtzehn Szenen eine historische Entwicklung lebendig werden, die von der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert bis ins einundzwanzigste Jahrhundert reicht, auch hier übersichtlich in Abschnitte gegliedert, mit Datum versehen. Die historischen Hintergründe, die in den Geschichten des ersten Teils da und dort am Rande der Erzählungen aufgetaucht sind, werden hier im Einzelnen beleuchtet, nicht als wissenschaftlicher Diskurs, sondern in Form von Dialogen, Monologen, Briefen, Reden, als Pressebericht, Radioübertragung und Kundgebung.
Historisches in dieser Form verständlich zu vermitteln ist dem Autor ein Anliegen. Manche Geschichten machen neugierig, überraschen und verunsichern auch in einem Maße, dass es bei mir als Lesendem unmittelbar die Befragung von Nachschlagewerken nach sich zog, ein Impuls, welcher der dialogisch-szenischen Erzählweise in diesen Texten in ihrer Wirkung zustimmt.
Die Mischung aus bekannten (Sir Winston Churchill, David Ben-Gurion), weniger geläufigen (Gertrude Bell, Boaz Davidson, George Habash) und bisher noch nicht gehörten Namen (Maryams Shop „Die Wüstenblume“), die in diesen Kurzgeschichten auftauchen, ist so gewählt, dass ein breites Spektrum an Informationen zum besseren Verständnis der aktuellen Lage entsteht. Erreicht wird so eine Klärung der historischen Wurzeln der jetzigen Situation in Israel und Palästina, ihrer Verhältnisse zu den Nachbarstaaten, aber auch der internationalen Verflechtungen. Zugleich werden die historischen Einschnitte im, aber auch die Bemühungen um das Zusammenleben in diesen Texten bewusst gemacht. Gegen Ende des Buches fließen noch zwei aktuelle Alltagserzählungen ein. Es gibt natürlich auch überraschende Episoden, die ich aber hier nicht vorwegnehmen will.
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die langjährige Recherchearbeit, die diesem Buch zugrunde liegt. Dazu hat Gerhard Blaboll Archive und Bibliotheken in Newcastle, Jerusalem, Kairo, New York, London, Paris und Tel Aviv aufgesucht. Dass es in diesem Buch ein Glossar zu einzelnen Begriffen gibt, stellt ein sehr hilfreiches Instrument für das Verständnis des Textes dar. Dass es keine Fußnoten und keine Literaturangaben gibt, begründet der Autor im Gespräch damit, dass sich dieses Buch nicht an ein Fachpublikum richtet. Der Wunsch des Autors ist es, einer nicht akademischen Leserschaft Verständnis und Geschichtsbewusstsein näher zu bringen, auch ohne einen historischen Vorwissensstand einzufordern.
Gerhard Blaboll setzt in seinem Erzählen einmal mehr auf die Lebendigkeit der Figuren und Dialoge, um den Leserinnen und Lesern komplexe Situationen zugänglich zu machen. Der vorliegende Band ist ein weiterer Schritt, mit dem er seinem Wunsch nachkommt, Verständnis für gesellschaftliche und politische Situationen und ihre Entstehung zu ermöglichen. Der Autor folgt somit auch mit diesem Buch seinem immer wieder an sich selbst gestellten Kulturauftrag.
Bruno Pisek (2025)