Rezension
Gerald Szyszkowitz
Wie man wird, was man sein möchte
Erinnerungen eines Fernsehspielchefs
Buchschmiede, Wien, 2022, 196 Seiten
ISBN 978-3-99129-804-5
Binnen Sekunden wird hier das Wort „Literaturuniversum“ für die 25-jährige Epoche des ORF-Fernsehspielchefs Gerald Szyszkowitz`genannt. Deshalb zitiere ich das astronomische Universum als multizentralen Komplex von Galaxien – Sterne, Planetensysteme, Gasnebel, Staubwolken, dunkle Materie: die Sternenstädte pendeln fadenartig aufgereiht im Raum. Ein alles bestimmendes Zentrum hat sich nicht gebildet, sondern es gibt viele nach ähnlichem Muster aktive Filamente und Superhaufen im All. Hierbei ziehen sie während zyklischer Annäherungen ganze Sternensysteme aus Nachbargalaxien an sich, was die Anziehungskräfte ständig verändert …
Der 1938 in Graz in eine einnehmend schöpferische, gebildete, kinderliebende Familie hineingeborene Gerald Szyszkowitz hat als 10-jähriger in den Kasematten des die Stadt krönenden Schloßbergs in Goethes Urgötz den kleinen Sohn des Götz von Berlichingen gespielt, (S. 25, „verdammt viel Text“), später das Grazer Akademische Gymnasium besucht; seinem Vater durfte er beim Bücherschreiben praktisch helfen (S. 188 ), und seine Mutter redete mit ihm stundenlang (beim Bügeln) über seine Ausbildung (S. 24). 1960 promovierte er in Wien zum Dr. phil. und trat mittellos seine empirische und pragmatische - Welterfahrung schaffende, auch deshalb nicht fremddotierte! – lange Weltreise an. (S. 55 „kann einer wie ich …überleben?“: Und wie er kann! Atemberaubend!). Ab 1962 zurück in Europa startete der ebenso hochbegabte wie fleissige, beflügelte wie sorgfältige Kunst- und Literaturkenner und – könner sein Lebenswerk: Um zu werden, d e r er sein wollte, wozu er zunächst jahrelang erarbeitete, w a s er sein mochte: Regieassistent, Regisseur für Theater- und Filmprojekte, Dramaturg, Chefdramaturg, Theaterautor an ersten Plätzen im deutschsprachigen Großraum, (Bonn, Dortmund, Wilhelmshaven, Hannover, Stuttgart, Baden-Baden, Frankfurt, Graz…). Dann ab 1972 fast 25 Jahre Fernsehspielchef des ORF. Gepriesener Prosaautor, meisterhafter Dramatiker, Direktor seines eigenen Theaters in Wien, Leiter der Sommerspiele Schloß Hunyadi in Maria Enzersdorf bei Wien: Er hat über 20 starke Romane geschrieben, 50 eigene Theaterstücke verfasst und aufgeführt, 1000 Filme initiiert und/oder produziert.
Der 83-jährige schenkt uns jetzt ein lebenspralles, blitzgescheites, literaturversiertes, in Zeitgeschichte beschlagenes, moralisch lupenreines, uns bereicherndes und bestärkendes Erinnerungsbuch. Sieben Mal erscheint in ihm die kongeniale literarische Fachkollegin Uta Wierer-Keiser, im Bayrischen Rundfunk tätig gewesen, aber längst Uta Szyszkowitz, seine Ehefrau, Übersetzerin u.a. von Genet und Ghelderode, seit 1964 Familienmutter… 1960 hatte sie darauf bestanden, ihm 100 DM als Notgroschen auf die sonst undotierte Weltreise mitzugeben… Was für ein schicksalbestimmendes Zeichen! (S. 55, 59, 91, 92 Heirat, 107, 157, 191).
Dieser Lebens- und Leistungsbericht erfüllt ganz besonders die Regel: Die packendsten Bücher schreiben Autoren, die als Einzige deren besonderen Stoff entfalten können: Hier also die Entstehung, den spannenden Aufgang, die weiterleuchtende Wirkung jenes expandierenden Literaturuniversums seiner Epoche. Dieses Buch hält sein Versprechen: So wie Dante durch Hölle, Fegefeuer und Himmel begleitet wird, eröffnet uns der Kunstmensch, Weltmann, Produktionsheld, Menschenfreund, dieser tatkräftig streitbar wahrheitsgezogene Gerald Szyszkowitz die dramatische Entstehung unseres Bewusstseins vom Welt- und Schicksalsgewirk: Oft werden wir beim Lesen der Schilderung seiner hingebungsvoll rekapitulierten Jahrzehnte an die Beschwörung in Goethes Faust-Prolog erinnert: „Die Sonne tönt … in Brudersphären Wettgesang … es wechselt Paradieseshelle mit tiefer schauervoller Nacht … Stürme brausen um die Wette und bilden eine Kette der tiefsten Wirkung rings umher…“
Und wie heißen nun die Geistes-Galaxien im Szyszkowitz - Universum (statt Milchstraße, Andromeda, Sagittarius, Aquarius, Ursa…)?
Demonstrative Nennung von Persönlichkeiten, die in seinem neuen Buch nicht etwa nur genannt werden, sondern die mit Dialogen, Briefen, Szenen, Denk- und Handlungsweisen im brodelnden Austausch mit dem Autor wichtige Kunst- und Lebenseinblicke bieten:
Alexander Sacher-Masoch, Alfred Holzinger, Alfred Kolleritsch, Alma Seidler, Arthur Schnitzler, Axel Corti, Beppo Mauhart, Bernhard Wicki, Bruno Kreisky, Carl Szokoll, Christopher Marlowe, Dagmar Koller, Elias Canetti, Elisabeth Orth, Erika Mitterer, Ernst Wolfram Marboe, Ernst Hinterberger, Felix Mitterer, Franz Innerhofer, Franz Theodor Csokor, Franz Werfel, Fritz Eckhardt, Fritz Lehner, Georg StefanTroller, Gerd Bacher, Gerd Voss, Gerhard Roth, Gerhard Weis, Gernot Wolfgruber, Gottfried von Einem, Guido Wieland, Hannes Androsch, Hans Moser, Harald Sommer, Helmut Berger, Helmut Zilk, Herbert Rosendorfer, Hilde Spiel, Ingeborg Bachmann, Johannes Paul II, Jörg Mauthe, Josef Meinrad, Joseph Roth, Kirsten Dene, Kuno Knöbl, Kurt Sowinetz, Kurt Waldheim, Leopold Figl, Marcel Reich-Ranicky, Max Mell, Max von Sydow, Michael Haneke, Michael Scharang, Ödön von Horvath, Paula Grogger, Paulus Manker, Pavel Kohout, Peter Handke, Peter Kreisky, Peter Turrini, Magda und Romy Schneider, Rudolf Forster, Sixtus Lanner Thomas Bernhard, Thomas Pluch, Vaclav Havel, Walter Kappacher, Willi Forst, Willy Pevny, Wolf in der Maur, Wolfgang Arnold, Wolfgang Bauer, Xaver Schwarzenberger…
Hier einige Inhalts-Skizzen aus Gerald Szyszkowitz` Erzählungen:
1.- … 1973 bekam ich von unserem Generalintendanten eine Interne Mitteilung wegen der ALPENSAGA: „Diese Serie ist primitiver Klassenkampf auf Blut- und Bodenniveau“ … Also habe ich nach einigen lautstarken Diskussionen Gerd Bacher doch dazu gebracht, sich die erste Folge von „meinem Autor“ Turrini einmal vorlesen zu lassen. Und der las dann so fabelhaft mit all seinem mimischen Talent, dass mein Generalintendant … mir zuflüsterte, während ihm die Tränen über die Wangen rollten, in seiner Familie seien sie auch genau so arm gewesen, und deswegen sei sein Vater in die Salzach gegangen. (S. 9)
2.- Vom ‚Kronrat…‘ bekamen wir 1974 abrupt den Herrn Otto Oberhammer. Der nicht wie unser Bacher aus einem Verlag in den ORF kam, sondern aus dem Justizministerium… Erst einmal war da also nix mit unserer ALPENSAGA. Turrini: …“Ich habe angst vor terminen und vor menschen, die es gut mit mir meinen… einige Herren des ORF haben ihr interesse für eine realisierung des einen oder anderen stücks bekundet, geschehen ist bis heute nichts. … lieber szyszkowitz, über ihren schnellen brief hab ich mich gefreut... endlich reagiert einer wie ein mensch auf das was man sagt… ich verliere die freude an der arbeit, die klarheit, die unabhängigkeit, was weiß ich, und dass ich etwas dagegen tun will… es ist keineswegs der fall, dass ich mir das leisten kann, ich habe ständig schulden, und die paar tausender, die ich mit meinen stücken verdiene, reichen gerade dafür aus zu verhindern, dass man das telefon absperrt.“ (S.10)
Peter Turrini 11.10.1988: „Ich danke Dir also nicht nur die Möglichkeit des Drehbuchschreibens, sondern auch die einer kontinuierlichen, über 16 Jahre laufenden literarischen und künstlerischen Entwicklung.“ (S.14)
3.- Nur ein einziges Mal war Gerd Bacher nach der Ausstrahlung eines unserer Fernsehspiele richtig verzweifelt – (nämlich wegen) des wichtigsten Teils des Thomas-Pluch-Fritz-Lehner-Mehrteilers DAS DORF AN DER GRENZE, da hatten alle drei Parlamentsparteien bei ihm protestiert… Der Generalintendant kam … bedrückt in mein Büro…: Jetzt hab ich nicht nur keine Mehrheit mehr im Aufsichtsrat, jetzt ist da überhaupt kana mehr bei denen, der uns verteidigt. Wos moch ma? Ich sagte mutig: „Sei stolz auf uns! Und sag denen das!“ (S.19)
4.- Wir hatten 1984 die erste öffentliche Vorführung unseres brandneuen Zweiteilers EINE BLASSBLAUE FRAUENSCHRIFT nach Franz Werfel vor hunderten Kulturwienern angesetzt, denn der Regisseur Axel Corti und ich waren überzeugt: es ist diesmal wirklich eine unserer besten Produktionen… Umso enttäuschter waren wir, dass ausgerechnet unser Generalintendant vor allen anderen laut schimpfend den Saal verließ… Er nannte unseren Film schnell schlicht und einfach „den letzten Schas.“ Ich darauf: „Ich finde diese BLASSBLAUE FRAUENSCHRIFT aber im Gegenteil als wunderbar. Und deswegen schick ich heuer auch gerade diesen Film zum Prix Italia!“ „Des hilft dem a nix mehr!“ sagte mein Generalintendant seufzend. … Aber schon ein halbes Jahr später rief ich ihn aus Sardinien an … „stell Dir vor, Gerd, wir haben schon wieder gewonnen!“ „Womit denn?“ „Mit dem Film, von dem Du gesagt hast, das ist der letzte Schas.“ „Na sixst, da hab ich ja scho wieda recht gehabt…“ So war er. Internationale Erfolge vergötterte er. (S.17)
5.- Nach der ersten Woche unserer Dreharbeiten an Fritz Lehners Schubert-Trilogie MIT MEINEN HEISSEN TRÄNEN war es zur „Finanzkatastrophe“ gekommen, „zu viel Materialverbrauch“. Ich bat den Auftragsproduzenten, den Regisseur, mit ihrem Produktionsleiter in mein Büro – das wurde die einzige Nacht, die ich in all den 25 Jahren im Büro verbracht habe, und vom Abend bis zum Morgenrot haben wir erbittert gestritten. Ich hatte … Verträge mit Japan, Südkorea und halb Europa unterschrieben, also wollte ich unbedingt dass trotz der offenbar aufgezeigten „Kostenexplosion“ … ohne Unterbrechung weitergedreht würde. Endlich gegen neun Uhr morgens waren die drei Verantwortlichen … zwar immer noch kämpfend, aber doch immerhin zusammen zum Drehort gefahren… In dem Moment musste ich – aber bitte sofort – ins Büro des Generalintendanten hinaufkommen, wo nun auch der Rechtsanwalt … kategorisch die sofortige Abberufung des Regisseurs direkt vom Generalintendanten verlangte. Gerd Bacher… winkte mich wieder einmal auf den Gang hinaus und fragte: „Um wieviel gehts denn?“ „Um 50 Millionen.“ „Und? Hast die Gschicht im Griff?“ Ich nickte. Befriedigt nickte auch er, ging zurück in sein Büro und sagte dem aufgeregten Herrn Rechtsanwalt…: „Mir ham die Gschicht im Griff.“
Für diesen Satz werde ich Gerd Bacher ewig dankbar sein. Er hat die drei Schubertfilme in dem Moment gerettet. – 1987 erhielten wir hiefür in Deutschland des Adolf-Grimme- Preis in Gold… (S.20)
6.- Klappentext der Buchausgabe des Franz Schubert-Films: „Höhepunkt im Bereich des ernsthaften Fernsehfilms!“ „Freiheit von der Last irgendeinem mythenumrankten Kinogenre gerecht werden zu müssen!“ Der große Stoff – das Leben und Wirken Franz Schuberts – muss nicht in 90 Minuten erzählt werden. MIT MEINEN HEISSEN TRÄNEN ist in all seiner Komplexität ohne jede sauertöpfische Betulichkeit volle 280 Minuten lang… Als ich in der letzten entscheidenden Programmsitzung tatsächlich der Geschäftsschädigung des ORF beschuldigt wurde … sagte ich: „Aber wir haben das Geld doch schon von unseren Ko-Partnern … Channel 4 in London, KBS in Soeul, SABC Johannesburg, Yleisradio Helsinki, Sveriges Televisione in Stockholm, MTC Budapest, RTV Ljubljana, NOS Hilversum und von … Die Stimmung im Haus änderte sich erst, als bekannt wurde, dass wir allein in Deutschland drei Grimmepreise in Gold für unsere Filme erhalten hatten… (S.72, 73)
7.– Packende und ergreifende Würdigungen der Autoren Michael Scharang (S. 112ff); Felix Mitterer (S. 115 ff); Herbert Rosendorfer (S. 120ff); Georg Stefan Troller (S. 147ff); Gernot Wolfgruber (S. 174ff) ; Thomas Pluch (S. 177 ff). Max Mell ( S.52 und 67).
Auf Seiten 134 ff findet sich die genaue Beschreibung der 1977 auf das Fernsehspiel einschlagenden Kottankrise wegen der parodistischen Krimiserie KOTTAN ERMITTELT.- Ich las alle Kritiken, konnte das nicht verstehen. Nach 7 Jahren Fernsehspielpraxis weiss man doch schon vor der Sendung, was ungefähr die Kritiker nach der Sendung schreiben werden. Aber nein, ich sah nur minus, minus, minus. Mit einer Art von Groteskkrimi wollten wir in dem allgemeinen Krimi-Einerlei mit der Kottan-Reihe etwas Neues versuchen … Doch der Zenker-Patzak-Humor hat sich… durchgesetzt. Wie vorgesehen haben wir den nächsten KOTTAN am 19.4.1978 gesendet und die Motorsportsektion des Polizeisportvereins Linz – hoch soll sie leben! – war die erste Polizeigruppierung, die dem ORF nach dieser Sendung offiziell mitteilte, dass die KOTTAN-Filme die Beliebtheit aller Kollegen im Raum Linz erkennbar gesteigert hatten. Denn nur, wer über sich selbst lachen kann, hat ein Recht ernst genommen zu werden, schrieben uns die Linzer … (S. 135, 136, 137)
Schließlich sind 28 anarchische KOTTAN-Folgen entstanden…
8.- Als ich am Morgen des 21.8.1968 ins Grazer Theater kam, sagte mir unser Pförtner: „Jetz sans do. Die Russen in Prag. Jetz sans einmarschiert.“ Ich hatte einen Freund in Prag, der hatte mir ein Stück versprochen. War das jetzt vorbei? Als Pavel Kohout noch auf dem Hradschin wohnte, hatte ich ihn zum ersten Mal besucht und ihn um ein Stück gebeten. Er war sofort angetan… Es musste bei mir im Steirischen Herbst unbedingt eine Uraufführung sein, er hatte gerade keines fertig .. wir machten einen Handschlagvertrag. Das Stück lag plötzlich in meiner Grazer Post, es hieß „Evol“. Ich mochte den Titel zwar nicht gleich, musste aber einsehen, dass man auf Evol kommt, wenn man das Wort Love von rechts nach links liest. Ich habe es als Uraufführung selbst inszeniert. …Der Autor bekam weder vor der Premiere noch danach die Erlaubnis, sich die Aufführung anzusehen. Später kam er allerdings doch noch nach Österreich, aber nicht auf Kurzbesuch, sondern Emigrant. Und wieder versuchte ich einen Text von ihm zu bekommen, diesmal eine Serie. Ich war … Fernsehspielchef in Wien. … Am 18.12.1987 schrieb er mir: „Lieber Gerald, für Deine neue Arbeit (Leiter der Musikabteilung des ORF) will ich Dir vor allem viel Spaß wünschen… Ich möchte mich bei Dir für alles Positive bedanken, das Du geleistest hast. … möchte ich aus tiefer Erfahrung prophezeien, dass Du Deinen Weg … nicht bereuen wirst… Wann immer Vergleichbares passierte, hat es letztendlich mein Leben wesentlich bereichert. Dein Pavel.“ - Die Pointe dieser Kohout-Serie ist, dass ich, als Gerd Bacher im Jahre 1990 wieder Generalintendant wurde, und ich also wieder Fernsehspielchef, diese Kohoutserie, die Pavel inzwischen als Buch in München herausgebracht hatte, verblüffenderweise doch noch auf unsere Fernsehschirme gebracht habe. In dem Exemplar seines Romans schrieb er am 18.1.1994: „Für Gerald, den Vater dieses Romans. (S. 50)
9.- Axel Corti: Wirklich mitgespielt habe ich selber in allen meinen 1000 ORF-Produktionen nur einmal: 1993 bei Axel Corti, diesem Zauberkünstler der Verzweiflung. Zwischen 1972 und 1994 habe ich 15 Filme mit Axel Corti produziert. U.a. die BLASSBLAUE FRAUENSCHRIFT und WELCOME IN VIENNA. Wir haben oft über Einzelheiten gestritten, aber jeder neue Film hat uns dann doch irgendwie noch enger zusammengebracht. (S.35) … Diesmal sagte ich zu eine Rolle in unserem RADETZKYMARSCH zu übernehmen. … Unser kalifornischer Partner verlangte die Absetzung des Regisseurs wegen der Produktionssumme… Als es ganz kritisch war und Axel Corti es plötzlich ablehnte, auch nur ein Wort mehr
über Einsparungen zu reden, bat ich ihn auf den Balkon: … aber er blieb auch mir gegenüber unzugänglich … bis er – dieser große selbstbewusste Mann – seinen schweren Kopf auf meine Schulter legte, mich hilflos umarmte und hemmungslos in meine Jacke weinte… Das Wunder geschah… Tag für Tag nur positive Meldungen.. alle Szenen waren im Kasten. (S. 35, 36, 37)
Axel legte sich ein paar Tage zum Durchchecken in eine Klinik, am 23.12.telefonierte er noch scheinbar ganz heiter mit mir, sagte dabei allerdings auch recht ernst, am 28. werde er wohl nicht am Drehort sein. Darüber ließ ich aber nicht mit mir reden. .. Na ja, sagte er, er werde sich bemühen.- An diesem seit Monaten von uns beiden vorgesehenen Drehtag nach Weihnachten ist er gestorben. „Zu viele weisse Blutkörperchen“, sagte seine Frau.
Besonderer Hinweis des Rezensenten für alle künftigen Besitzenden und Lesenden dieses großen Kunstschaffens-Erinnerungswerks: Die erste Seite des hardcovers außen in Farbe und das schwarz-weisse Titelfoto innen zeigen das Arbeitsbild vom RADETZKYMARSCH: Bruno Dallansky, Max von Sydow, Axel Corti und – ihm gegenüber - Gerald Szyszkowitz. Gerald schreibt hierzu: „Wenige Tage, nachdem das Titelfoto aufgenommen worden war, wurde Axel Corti auf dem Arnsdorfer Friedhof begraben.“ (S. 39)
Wir verdanken dem Verfasser G.Sz. durch das farbige Coverfoto des hier zu würdigenden Buchs die textliche und optische Offenbarung des Gesichts Axel Cortis im Bewusstsein seines unmittelbar bevorstehenden Todes: durchgeistigt, liebevoll, allwissend, seelisch für immer ungebrochen vor aller ihm offenen Tragik und Schönheit. Das ergreifende Porträt als Andachtsbild.
Obige nur neun Skizzen entstammen – zufällig ausgewählt – den fünfundvierzig Kapiteln der „Erinnerungen eines Fernsehspielchefs“. Ähnlich frappante zeitgeschichtlich/(kultur-)politisch sensationelle Schilderungen garantieren so manche Wiedererkennungsfreuden, hohen literarischen Lesegenuß und –gewinn. (z.B. einen großen Geschäftserfolg im Kloster Martinique … und die Todesangst in Saigon 1962, S. 55 – S. 63)
Die Frage, wer man sein möchte, begleitet implizit jeden Menschen. Die vorliegende explizite Bearbeitung der für deren positive Beantwortung maßgeblichen Bedingungen durch den 83-jährigen Gerald Szyszkowitz bewirkt Bewunderung und Zuneigung: Sein einnehmender Erzählton („tagwandlerische Sicherheit und Eleganz“ lt. Peter Handke, S. 44), sein stets human inspirierter Zugang auf Personen und Themen. Hier hat uns ein kluger und fleißiger Zeitgenosse und Kollege sein Streben gezeigt: Es schenkte uns einen scharfen Denker voll Menschenliebe; einen geistvollen Weltmann; einen kraftvollen Macher mit Weisheit; einen großherzigen Universalisten. Vielen einen Freund. Dem riesengroßen Publikum eine Sonne!
Bitte lesen! (Das zu unterlassen wäre Selbstschädigung.)
Matthias Mander
ps: Dem leidenschaftlichen Shakespeare-/Marlowe-(bzw. Shakespeare = Marlowe)- Forscher- und Aufklärer G.Sz. (s.S. 67, 100 – 106, 184) ein Knicks des Rezensenten mit einem Goethe-Fund bei Eckermann, 2.1.1824: „Ein dramatisches Talent“, fuhr Goethe fort, „wenn es bedeutend war, konnte nicht umhin von Shakespeare Notiz zu nehmen, ja es konnte nicht umhin ihn zu studieren. Studierte es ihn aber, so mußte ihm bewusst werden, dass Shakespeare die ganze Menschennatur nach allen Richtungen hin und in allen Tiefen und Höhen bereits erschöpft habe, und dass im Grunde für ihn, den Nachkömmling, nichts mehr zu tun übrig bleibe. Und woher hätte einer den Mut nehmen sollen, nur die Feder anzusetzen …!“
Eckermann: „… so kann man nicht umhin, seine riesenhafte Größe als ein Wunder anzustaunen… versetzt man sich auf den Boden seines Landes und in die Atmosphäre des Jahrhunderts, in dem er lebte, studiert man ferner seine Mitlebenden und unmittelbaren Nachfolger, atmet man die Kraft, die uns von Ben Jonson, Massinger, Marlow (sic) und Beaumont und Fletcher anweht…“
„Sie haben vollkommen recht“, erwiderte Goethe. -
Aber dass Goethe, der wissenschaftsgetriebene Autor der Farbenlehre durch Eckermanns Reklamation eines „Wunders“ nicht stutzig geworden ist? Etwa so: Reichen denn dafür die Lebens-Wach-Stunden einer einzigen Person? Schon so nah der Wahrheit.
Matthias Mander