Rezension
Hans Werner Sokop
Wiener Leben – Istrien Erleben
Österreichische Haiku Gesellschaft 2024, 92 Seiten
ISBN 978-3-9505364-7-8
Die Haiku-Dichtung hat etwas von Bonsaizüchtung: Man muss schon viel schnippeln, hegen und pflegen, damit die wahre Pracht und Schönheit des Bäumchens zur Geltung kommt. Der Dante-Alighieri-Spezialist und Wiener Haiku-Dichter Hans Werner Sokop setzte für diese Neuerscheinung seine feinste Gartenschere an und züchtete einen Band voller kleiner literarischer Gewächse. Gleich zu Beginn nimmt uns der Autor mit auf einen fotografischen Haiku-Spaziergang durch Wien. Dabei macht er auf architekturhistorische Besonderheiten der Stadt aufmerksam, richtet seinen Blick auf Palais, Schlösser, Hausfassaden, Wiener Originale und auch Denkmäler – und bleibt dabei stets mit einer gehörigen Prise Ironie auf Distanz. Dazu gesellt sich auf jeder zweiten Seite ein Farbfoto des Autors, auf dem das in einem Haiku verdichtete Objekt zu sehen ist.
Sokop versteht es, in den Dreizeilern eine erlebbare Atmosphäre, wie in echten Haikus gefordert, spielerisch zu erzeugen, etwa auf Seite 9, unter einer Abbildung der Frontfassade der Otto-Wagner-Kirche am Steinhof in Wien: „Vier goldne Engel / ehrfiachtig erstoart – ober / ihr Schottn bewegt si“. Dann wiederum zeigt sich der dichtende Flaneur erfreut über den Abbau des Gerüsts an der Votivkirche (Seite 12): „D Votivkirchn siechst / amoi nockat ohne Grist / fraunk: dopet spitze“. Er führt uns in die Weinberge am Fuße des Gallitzinbergs in Wien-Ottakring („Nur a klaner Blitz / zuckt wiara ‚Entschuldign scho‘ / ibern Liebhardtstoi“, Seite 20), skizziert seine spontanen Eindrücke von den Denkmälern Maria Theresias, Franz Schuberts, dem Strauß-Lanner-Denkmal im Rathauspark oder von jenem Ferdinand Raimunds – immer mit einer Prise Humor und vergnüglicher Skepsis gegenüber einer dem Tourismus geschuldeten Überbewertung derselben.
Sokops Haikus auf Wienerisch entfalten jedenfalls ihre größte Wirkkraft, wenn er sich der Wiener Seele widmet – mit all ihren Abgründen: „Im Riesnrod: Obm / steck i olle in Sock; unt / fiacht i mi wieder“ (Seite 18). Oder wenn ihn sein Humor beim Schlendern durch Schönbrunn übermannt: „Gibts denn imma no / ka Pensionistnschwimman / im Neptunbrunnan?“ (Seite 24). Einzig ein sehr prominent gesetzter, weil unmittelbar mit einem Foto versehener Haiku sticht in der Reihe süffisanter Betrachtungen Wiener Denkmäler hervor (Seite 27): Er ist Alfred Hrdlickas Mahnmal gegen Krieg und Faschismus auf dem Albertinaplatz gewidmet und entzieht sich offenbar trotz aller historischen Last bewusst einer klaren konkreten inhaltlichen Beurteilung.
Im zweiten Abschnitt, „Wien im Wandel der Jahreszeiten“, skizziert Sokop mit knappen Strichen Impressionen, die er im Wandern aufschnappt, und regt bisweilen zum Schmunzeln an. Da beschreibt der Autor etwa eine Sommeridylle („Im Gänsehäufe / bratn ma de Deckn aus, / es riacht noch Schnitzln“, Seite 36) oder er legt dem Kaiser Franz Joseph beim traurigen Anblick von dessen schneebedecktem Denkmal nonchalant den Satz in den Mund: „Mir bleibt nix erspoat“ (Seite 41), und stellt nicht nur in diesem Fall die Haiku-Tauglichkeit des Wienerischen unter Beweis.
Im letzten Abschnitt des Bandes, „Istrien erleben“, wechselt Sokop in die Hochsprache und bedient die gesamte Klaviatur seiner Feinsinnigkeit. „Frühes Gegenlicht / zaubert vor den Uferkranz / schwebende Felsen“ heißt es auf Seite 54 – hier versetzt der Autor die Leserschaft mit einem Mal ans Meer, lässt die Gischt hörbar werden und löst Erinnerungen an den Duft des Salzwassers aus. Mehr noch, Sokop streift durch den Küstenabschnitt, sammelt Momente ein und fasst diese in Worte. Wie literarische Polaroids verändern die Haiku beim Lesen ihre Farbe und entfalten ihre ganze Wirkung nach einem Moment des Innehaltens: „Nach dem Regenguss / da, dort, da der Tropfen Ton: / Walduhr ohne Zeit“ (Seite 58).
Sokop beschreibt die Tierwelt auf der Insel Brioni, macht uns auf Zauneidechsen aufmerksam, lauscht den Zikaden oder deutet auf einen toten Fisch, der offenbar angespült wurde, sowie auf die Äskulapnatter beim Venustempel, er sieht die Libelle in der Luft stehen, hört die Möwen schreien, führt uns durch Pinienalleen und beschließt den Band mit einer „Abschieds-Szenerie / wenn der eigene Schatten / still ins Wasser fällt“ (Seite 89) – ein wahrhaft stimmiges Ende dieses Bildbandes in Worten.
Armin Baumgartner (2025)