Rezension
Andrea Drumbl und Paul Sägesser
Wir haben das Dasein geübt. Begegnungen
Scheidegger & Spiess 2025, 144 Seiten
ISBN 978-3-03942-256-2
Wort und Bild bibliophil
Eine österreichische Autorin, Andrea Drumbl, schickt poetische Texte an den Schweizer Kunstmaler Paul Sägesser. Dieser, inspiriert von den Gedichten, malt dazu und schickt diese Werke an seine Kollegin. Über die Zeit entsteht so eine stattliche Sammlung, ein Dialog zwischen Bild und Sprache. Daraus wurde ein Buch, in dem Geschriebenes und Gemaltes einander gegenüberstehen – die Texte auf der linken Seite und die Bilder auf der rechten. Was auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint, entpuppt sich beim zweiten Hinsehen als großformatiges, bibliophiles Gesamtkunstwerk, in dem kreative Inspiration und Antwort zusammenfinden.
Andrea Drumbl wurde 1976 in Lienz in Osttirol geboren. Aufgewachsen ist sie in Kärnten, seit 2013 lebt sie mit ihrer Familie in der oberösterreichischen Hauptstadt Linz. Sie studierte Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, veröffentlichte in Zeitschriften, Anthologien und im ORF-Hörfunksender Ö1. Sie verfasste drei Romane, die in der Edition Atelier erschienen sind, und erhielt mehrere literarische Auszeichnungen, etwa den Kärntner Lyrikpreis 2010 sowie den Theodor-Körner-Preis 2019.
Paul Sägesser wurde 1956 in Lützelflüh in der Schweiz geboren. Er ist Kunstmaler, Bildhauer, Plastiker und Buchillustrator. Seine Laufbahn begann er mit Holzschnitten, Bleisatz und Buchillustrationen. 1989 übersiedelte er nach Spanien. Die meisten Ausstellungen seiner Werke fanden in der Schweiz und in Spanien statt. 2004 kehrte er wieder in die Schweiz zurück und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Im vorliegenden Buch mit Andrea Drumbl zeigt er erstmals wieder neue Arbeiten. Die darin enthaltenen Bilder wurden in unterschiedlichen Techniken gefertigt; wir finden Aquarelle, Collagen und Übermalungen vor. Sie sind abstrakt und figürlich, allerdings nie im Sinne einer fotografischen Genauigkeit; wichtig sind Impression und Andeutung.
Das Entstehen von Wir haben das Dasein geübt bezeichnen die beiden als eine »kreative Korrespondenz«. Sowohl die Gedichte als auch die Bilder sind eigenständige Werke, und doch stehen sie miteinander in Verbindung, verraten wohl gegenseitige Inspirationen, und in vielen Fällen spiegelt sich der Textinhalt in den nebenstehenden Abbildungen wider.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die enthaltenen Texte wirken auf mich ungemein poetisch, die bildnerischen Arbeiten ebenso. In diesem Sinne ist auch das erste Gedicht zu lesen, das als Einleitung fungiert und in einer größeren Schrift gedruckt ist:
Auf der Suche nach einer Kunstsprache,
nach einer Sprache zwischen Kunst und Schrift,
zwischen Punkt und Komma,
zwischen Satz und Licht ist der Gegensatz
der innerste Antrieb, um nicht zu scheitern,
denn das Scheitern ist nicht nur ein Scheitern,
sondern ein Sprechen ohne Sprache,
ein Schweigen,
ein Leiden,
ein Tiefschlaf und der Schrei in einem Gedicht. (S. 8)
Das nebenstehende Bild zeigt einen verwaschenen breiten Rahmen, womöglich einen Fensterrahmen, in dessen Hintergrund ein Gebäude angedeutet wird. Mitten im Rahmen eine gesichtslose Männergestalt, die etwas vor dem Körper trägt, was für mich wie ein Stapel Bücher aussieht. Oben und unten scheint durch den Rahmen der handgeschriebene Text der Autorin durch.
Die konkrete Einarbeitung der Manuskripte, die Andrea Drumbl handschriftlich in die Schweiz geschickt hat, zeigt sich in mehreren Bildern. Eine der Arbeiten enthält groß das Lemma »Wort« in Druckschrift, und davor beugt sich eine Gestalt, die bloß durch drei voneinander abgesetzte, »zerrissene«, Farbblöcke angedeutet ist. Das zugehörige Gedicht lautet:
Ich würde mich auch
in ein Wort hineinlehnen,
nur um herauszufinden,
ob es mich nicht ganz
zerreißt. (S. 88)
Andrea Drumbl schreibt in freien Rhythmen. Meist verwendet sie eine vollständige Zeichensetzung, und so bestehen die Gedichte aus vollständigen Sätzen, Aussagen und Fragen. Titel gibt es keine, was in der Gegenüberstellung von Text und Bild perfekt passt. Manches Gedich kommt hingegen gänzlich ohne Satzzeichen aus, und diese Texte muten wie Farbtupfer an, die mich an die sprachliche Typologie eines Haiku erinnern. So etwa das folgende Gedicht:
Zwei Menschen
eine Liebesgeschichte
seitenverkehrt
im Uhrzeigersinn
hängen geblieben
als wäre auch Poesie
eine Gelegenheit (S. 58)
Wir haben das Dasein geübt gliedert sich in drei Abschnitte. Diese beginnen nach der oben genannten Einleitungssequenz und lauten: »Der Mond ist ein Tier«, »Fische küssen« und »Undine schreit nicht«.
Leser*innen treffen auf poetische Gedanken, gefühlvolle Beobachtungen und phantasievolle Bilder, die bisweilen aus der Vorstellungswelt von Kindern stammen. Die Themen kreisen um Liebe, Leben, Schicksal und Tod. Folglich ist manches traurig und erfordert ein Nachspüren, denn vieles wird nur angedeutet, gibt sich vielschichtig und schemenhaft. Dabei weiß die Autorin aber ganz genau, was sich in der Welt abspielt:
Mariupol im Süden,
Charkiw im Osten,
Tschernihiw im Norden
und Lwiw.
Mariupol war freitags,
Charkiw war sonntags,
Tschernihiw war donnerstags und
dazwischen lag Lwiw. (S. 130)
Obwohl kaum Konkretes ausformuliert wird, ist allen Leser*innen klar, worum es geht. Wir sehen die Drohnen und Raketen fliegen, Bomben explodieren und Häuser zusammenfallen; die Menschen stecken dazwischen und darunter. Das zugehörige Bild ist eine leichte Übermalung eines spanischen Zeitungsartikels, in dem es um eine Neuausgabe des Gesamtwerkes des kommunistischen chilenischen Dichters Pablo Neruda geht. Die Übermalung zeigt eine Geröllhalde von Felsbrocken, die gleichzeitig Gesichter sind. Sie sind in Schwarz gehalten, während sich auf dem Zeitungspapier auch mehrere rote Farbflecken finden, die zwangsläufig an Blut gemahnen.
Zum Abschluss möchte ich einen der phantasievollen Texte von Andrea Drumbl zitieren, der neben einem tiefblauen Aquarell steht:
Vielleicht beginnt am Grashalm
der Lauf der Zeit, sonntags,
wenn Ameisen schlafen.
Aber schlafen Ameisen sonntags? (S. 68)
Der Lyrik- und Grafikband von Andrea Drumbl und Paul Sägesser ist im Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess erschienen, mit einer in graues Leinen gebundenen harten Buchdecke, Prägedruck auf dem Cover und Fadenbindung für den Buchblock. Alle bildnerischen Arbeiten sind in Farbe gehalten und die vertikale Anordnung der Gedichte variiert, was einen sehr ästhetischen Eindruck vermittelt. Wir haben das Dasein geübt ist ein wunderschöner Band, und die sorgfältige, geradezu bibliophile Gestaltung rechtfertigt den etwas höheren Preis allemal. Ich kann dieses Buch nur wärmstens empfehlen – es eignet sich auch hervorragend als Geschenk!
Klaus Ebner (2025)