Rezension
Theodor Kramer
Wir lagen in Wolhynien im Morast …
Und weitere Gedichte zum Ersten Weltkrieg.
Herausgegeben von Karl Müller und Peter Roessler
Verlag der Theodor-Kramer-Gesellschaft 2023, 204 Seiten
ISBN 978-3-903522-09-1
Ein Buch gegen den Krieg, nicht irgendeines freilich, sondern eines, das von einem der bedeutendsten österreichischen Lyriker des letzten Jahrhunderts stammt: von Theodor Kramer.
Er war erst achtzehn Jahre alt, da kam er als Einjährig-Freiwilliger an die Front des Ersten Weltkriegs. Im Juni 1916 wurde er in der Schlacht von Olyko lebensgefährlich verwundet, kam zur Genesung ins Hinterland und wurde so weit wieder hergestellt, dass er wenige Monate später in einem Kriegsgefangenenlager in den Waldkarpaten Dienst tun musste, bis er buchstäblich mit dem letzten Aufgebot, im September 1918, erneut an die Front versetzt wurde, diesmal nicht nach Osten, sondern nach Süden, nach Italien. Dort erlebte er die Kapitulation, schlug sich zusammen mit einem Kriegskameraden zu Fuß über den Plöckenpass nach Kärnten durch und gelangte schließlich mit heiler Haut nach Hause.
Der Krieg war zu Ende, das Reich des Doppeladlers zerfallen, eine Welt lag in Trümmern, eine neue kündigte sich in Umrissen an, zumal in Wien, wo man gerade die Republik ausgerufen hatte und wo nun unter sozialdemokratischer Ägide ein bedeutendes soziales Aufbauwerk begann. Kramer sympathisierte mit der Sozialdemokratie, schloss sich ihr an, ein Dichter der Partei jedoch wurde er nie, sondern bewahrte sich seine Eigenständigkeit. Sein Ort war und blieb die Peripherie; jener Bereich, wo die Stadt in das Land übergeht, die Ränder der Dörfer, der Märkte, der „Flecken“, wie er sie nennt, die Ränder aber auch der Gesellschaft, wo prekäre Existenzen ihr Asyl finden, wo das Unglück zuhause ist, aber auch das kurze, flüchtige, mit rauschhafter Hingabe genossene Glück und wo man all jene antrifft, die ohne Stimme sind und die niemand fragt nach ihrem Verbleib, ihren Freuden und Sehnsüchten, ihren Leiden und ihrer Zuversicht.
Kramer gab ihnen eine Stimme in seinen Gedichten, wie dies kein Zweiter vermochte in der österreichischen Literatur, fand damit eine große Leserschaft, ehe die braune Diktatur ihm, dem Sohn eines jüdischen Landarztes aus dem Weinviertel, den Boden unter den Füßen entzog, ihn vertrieb und verfemte. In achtzehn Jahren im englischen Exil schrieb er weiter, unbeirrt, ohne Unterlass, schrieb gegen den Verlust seiner Heimat an, bis er schließlich, 1957, als gebrochener, kranker Mann, nach Österreich heimkehren konnte, um hier festzustellen: „Erst in der Heimat bin ich ewig fremd“.
Eine Sonderstellung in seinem Werk nehmen seine hiermit erstmals wieder separat vorliegenden Kriegsgedichte ein, der Gedichtband „Wir lagen in Wolhyien im Morast“, der erstmals 1931 bei Zsolnay erschien und auf breites Echo stieß, begeisterte Zustimmung auslöste, aber auch entschiedene Ablehnung. Bruno Kreisky, bei Erscheinen des Buches 20 Jahre alt, erinnerte sich später: „Kramers Gedichte waren manchen nicht kämpferisch genug gegen den Krieg gerichtet. Heute über diese Zeit nachdenkend, muß ich sagen, daß gerade in der Nüchternheit ihre Wirksamkeit lag.“ Und Otto Koenig, später, 1945, unter den Gründungsmitgliedern unseres Verbandes, schrieb damals in einer Rezension für die „Arbeiterzeitung“: „Sie schreien nicht auf, diese Verse, sie klagen nicht und sie deklamieren schon gar nicht, sie ziehen einfach in ungeziertem Gleichschritt vorüber. Was Kramer erlebt hat, hat wohl jeder Kriegsteilnehmer erlebt, aber Kramers jede Erregung verhaltenden versmäßigen Berichte tragen in ihrer harten Schmucklosigkeit das große Staunen mit sich und in den Leser, daß all dieser grausame Unsinn, diese ekelhafte Furchtbarkeit, dieser häßliche Spuk von Menschen erlebt und überlebt werden konnte.“
In dem schmalen, streng komponierten Band, der, wenngleich in einem Zeitraum von mehreren Jahren entstanden, wie aus einem Guss ist, lässt Kramer die Stationen, die er als Soldat im Krieg durchlaufen hat, Revue passieren, meidet dabei aber die Ich-Form konsequent. Was der Titel verspricht, lösen die Texte ein; das Ich verschwindet im Wir, geht in ihm völlig auf; gemeinsam gelangt man „im Viehwaggon, vermacht mit starken Stangen“, an die Front, nach Wolhynien (das heute in der Ukraine liegt und erneut Kriegsgebiet ist), gemeinsam marschiert man unter sengender Sonne durch „zerstörtes Land“, gemeinsam erleidet man die Enge der Schützengräben, gemeinsam liegt man im Dreck, im „schweißgetränkten Staub“, im Drahtverhau, gemeinsam erzittert man beim „Grunzen der Granaten“, gemeinsam atmet man auf, wenn die Gefahr vorüber ist und der langersehnte erste Rasttag anbricht, gemeinsam erleidet man Hunger und Durst, unsagbare Trägheit und Müdigkeit, gemeinsam döst man auf den Pritschen der Baracken, gemeinsam vermisst man, wenn sie ausbleibt, die Post von Zuhause, gemeinsam führt man Befehle aus, deren Sinn man nicht versteht.
Diese Gemeinschaft, eine Schicksalsgemeinschaft, wird von Kramer in keinem Vers und mit keiner Silbe verklärt oder gar idealisiert und doch als Voraussetzung dafür erkannt, überhaupt Worte zu finden für das im Krieg Erlebte, Gesehene, Erlittene, Begangene. Nur in der Wir-Form lässt sich darüber sprechen, und noch Jahre später versichert man einander der gemeinsamen Erfahrungen, die man mit sich ein Leben lang herumträgt und von denen man gezeichnet ist wie jener Verschüttete in einem der wohl eindrucksvollsten Gedichte des Bandes, der sein Trauma nicht verwinden kann, für den der Krieg nie aufgehört hat, der Jahre später noch in seinem Garten einen Graben aushebt, um darin in Deckung zu gehen:
Das kleine Rascheln der verdorrten Ranken,
der Erde Rauschen einzig war um ihn;
und hallend stieß er manchmal an die Planken
des Walls und weinte leise vor sich hin.
Abschließend noch ein Wort zu dieser Neuausgabe: 80 Seiten Text – die Gedichte des Wolhynien-Bandes, ergänzt um weitere Gedichte des Autors, die den Ersten Weltkrieg zum Thema haben, darunter einige, die in der großen, dreibändigen Werkausgabe von Erwin Chvojka fehlen und hier erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht werden – stehen über 100 Seiten Apparat gegenüber. Das mag auf den ersten Blick wie ein Missverhältnis wirken, wie ein Übergewicht des Kommentars gegenüber dem Werk, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als sinnvoll und schlüssig. Denn es ist ein Apparat, der sich nicht in philologischem Kleinkram erschöpft, sondern wesentliche Hintergrund- und Zusatzinformationen bietet, etwa den vollen Wortlaut aller wichtigen zeitgenössischen Rezensionen, die Publikationsgeschichte der einzelnen Gedichte, ein Glossar – bei Kramer, der in seiner Lyrik gerne mit anschaulichen Ausdrücken aus der Umgangssprache und mit Wörtern aus verschiedenen Jargons hantiert, besonders nützlich – und einen umfangreichen, einfühlsamen und kenntnisreichen Essay von Peter Roessler, dem derzeitigen Vorsitzenden der Theodor-Kramer-Gesellschaft, eine Tour d’horizon über das Buch hinaus und zu ihm zurück, die sich bescheiden „Nachwort“ nennt.
Es bleibt zu hoffen, dass auch weitere der vom Dichter selbst veröffentlichten Lyriksammlungen, etwa „Die Gaunerzinke“ von 1929 oder „Verbannt aus Österreich“ von 1943, in naher Zukunft ähnliche editorische Sorgfalt erfahren.
Christian Teissl (2024)